Cast
Vorstellungen
Filmkritik
Ein Gemüt wie das der Munchkins kann bei Licht besehen schon etwas Angst machen. Zwar steht am Anfang von „Wicked“ keine Wiederaufnahme von „Ding Dong, die Hex ist tot“, mit dem das Munchkin-Volk aus dem wundersamen Lande Oz im ikonischen „Zauberer von Oz“-Film von 1939 den Tod der Bösen Hexe des Ostens kommentiert hatte. Doch auf die Nachricht vom Ableben ihrer noch verrufeneren Verwandten, der Bösen Hexe des Westens, ist die Freude vergleichbar ungebändigt, und so setzt „Wicked“ mit lautem Jubelgesang über die „guten Neuigkeiten“ ein, während die Munchkins die schützenden Barrikaden an ihren Häusern und die Warnplakate mit dem Bild der grünhäutigen Hexe niederreißen.
Zweifel sind angebracht
Es ist ein Trubel, den auch der Auftritt der guten Hexe Glinda in ihrer fliegenden Blase nur kurz unterbricht, die angesichts des Treibens sichtlich gemischte Gefühle hat und Einwände hören lässt, ob die Geschmähte denn wirklich so durch und durch böse gewesen sei. Was man im ersten Moment einer Mischung aus Herzensgüte und leichter Weltentrücktheit zuschreiben könnte, mit der schon der 1939er-Film das Image von Glinda geprägt hatte, entpuppt sich hier aber sogleich als Einstieg in einen ungewöhnlichen Zugriff auf den „Oz“-Stoff. Vom Albtraumbild des grässlich keifenden, giftgrünen Kinderschrecks muss man sich in „Wicked“ auf ganzer Linie verabschieden.
Eine zumindest grobe Kenntnis von Figuren und Ausstattung des „Zauberer von Oz“-Filmklassikers von Victor Fleming ist gleichwohl empfehlenswert, um die zitatenreiche Reverenz der Bühnenmusical-Verfilmung durch Jon M. Chu vollauf schätzen zu können. Auch wenn deren effektgefüllter Aufwand sich deutlich vom handgemachten Charme des Fleming-Films abhebt. Was nicht heißt, dass die „Wicked“-Adaption Neueinsteiger außen vor lassen würde, zumal in diesem Auftakt der auf zwei Teile ausgedehnten Adaption des Musicals die Sympathie für die Hauptfigur Elphaba schnell etabliert ist.
Wegen ihrer angeborenen grünen Hautfarbe wird Elphaba schon als Neugeborenes von ihrem Vater verachtet, dem Gouverneur des Munchkinlandes; und als Kind entlädt sich der ganze Spott der Altersgenossen über ihr. Spontane Schreckensschreie löst sie auch dann noch aus, als sie als junge Erwachsene erstmals die Internats-Hochschule Shiz betritt, die sich im Film als freundlichere Variante von Harry Potters Hogwarts präsentiert – ein ähnlich eindrucksvolles schlossartiges Gelände, aber nicht so düster umflort, sondern von blauen Lagunen und mächtigen Felsen umgeben.
Ein magisches Ausnahmetalent
Elphaba ist eigentlich nur zur Begleitung ihrer jüngeren Schwester Nessarose mit in Shiz, weil die im Rollstuhl sitzt. Nach einer emotionalen Kurzschluss-Reaktion, die ihre magischen Kräfte enthüllt, wird sie aber ebenfalls als Studentin aufgenommen. Für die Zauberei-Professorin Madame Morrible ist Elphaba ein Ausnahmetalent, das es zu fördern gilt, wohingegen diese ihre Kräfte, die sie weder erklären noch kontrollieren kann, bislang nur mit Angst und Unsicherheit betrachtete.
Chu und die Drehbuchautorinnen Winnie Holzman und Dana Fox etablieren früh die Selbstzweifel als zentrales Motiv des Films, das nicht nur die einfühlsame Sicht auf Elphaba festigt, sondern sich auch bei der zweiten Protagonistin offenbart. Galinda, deren Name in jungen Jahren noch einen zusätzlichen Buchstaben umfasst, tritt zunächst wie eine typische College-Bienenkönigin auf, die mit einer Armada pinker Koffer voller Schönheits-Accessoires in Shiz einzieht, sofort einen Hofstaat von Bewunderern um sich sammelt und vor Selbstbewusstsein zu bersten scheint. Ihre Egozentrik wird jedoch erschüttert, als ihre Bewerbung für den Zauberunterricht von Madame Morrible brüsk zurückgewiesen wird und sie ausgerechnet Elphaba als Zimmergenossin akzeptieren muss.
Eine empfindsame Seele
Die extrovertierte, ihre Verunsicherung überspielende Blondine und die nachdenkliche, dezent sarkastische Grünhäutige sind sich im ersten Teil des Films spinnefeind und tragen ihre Abneigung offen aus, was die Sympathielenkung für Elphaba noch verstärkt. Gleichzeitig wird in der feinfühligen Interpretation von Cynthia Erivo die Empfindsamkeit als Elphabas bestimmender Charakterzug immer deutlicher, wenn sie als Einzige an der Hochschule gegen ein offensichtliches Unrecht aufzubegehren beginnt. Denn sprechende Tiere, die bislang in die Gesellschaft integriert waren, werden in Oz mehr und mehr zu Feindbildern, die man verfolgt und ihrer Arbeitsplätze und Bürgerrechte beraubt. Ein weiterer Grund für Elphaba, ihre ganze Hoffnung auf eine Begegnung mit dem als allmächtig beschriebenen Zauberer zu richten.
Bevor es zum Aufeinandertreffen der jungen Hexe mit dem Herrscher über Oz kommt, vergehen allerdings rund zwei Filmstunden, denn Jon M. Chu nimmt sich für „Wicked: Teil 1“ mit einer Länge von 160 Minuten so viel Zeit, wie sie andere Musicals für ihre komplette Geschichte benötigen. Die gedehnte Laufzeit zahlt sich erzählerisch aber außergewöhnlich aus. Die einzelnen Musiknummern werden im Vergleich zur Bühnenversion teils erheblich und inhaltlich stets gewinnbringend erweitert; und auch die Schauplätze wie die prachtvolle Shiz-Universität, ihre Umgebung oder zum Finale hin die Smaragdstadt werden mit einer Detailfreude ausgestattet, die einen stimmungsvollen Hintergrund für die ebenso sorgfältig ausgemalten Charaktere bildet.
In dieser Welt, deren exakte Gesetze immer ein wenig schleierhaft bleiben – was auch 1939 bei „Der Zauberer von Oz“ schon galt –, sind die Verhältnisse untereinander alles andere als vorbildlich. Für Feindseligkeiten zwischen den Figuren öffnet das Tür und Tor. Die unterschwelligen Verweise auf eine Gesellschaft, die über die Ausgrenzung von Schwächeren und pompöse Inszenierungen am Laufen gehalten wird, besitzen trotz aller Verspieltheit eine pointierte Aktualität. Die Diskriminierung, wie sie vor allem Elphaba systematisch (und mit klarem rassistischem Unterton) erfährt, inszeniert Chu mit einer durchaus schmerzhaften Insistenz, bis zur Demütigung bei einem Tanzvergnügen, die leicht in eine Eskalation wie bei „Carrie – Des Satans jüngste Tochter“ münden könnte. Stattdessen aber gelingt es dem Film, sich in diesem Moment auch musikalisch ganz zurückzunehmen und über den Beweis des sich regenden Gewissens von Galinda vermeintliche Gewissheiten aus den Angeln zu heben. Fortan sind Elphaba und die von der Popsängerin Ariana Grande verkörperte Galinda gleichermaßen fesselnde Heldinnen, flankiert von einer Reihe ebenso kongenial besetzter Nebenfiguren.
Ungewöhnlich geglückte Musicalverfilmung
Obwohl allein schon die markanten Charaktere und die erzählerische Konzentration „Wicked“ über andere, eher bemüht bleibende filmische Schurkinnen-Rehabilitationen wie „Maleficent“ oder „Cruella“ hinausheben, präsentiert sich der Film auch formal als eine ungewöhnlich geglückte Musicalverfilmung. Wie schon bei „In the Heights“ beweist Chu sein Talent, große Massen-Tanzszenen ebenso inszenieren zu können wie die intimeren Songs von „Wicked“-Komponist Stephen Schwartz; und zudem hilft er den Hauptdarstellerinnen in den Solo- und Duett-Darbietungen, ihre Gesangsstimmen glänzen zu lassen.
Die entspannte Aura der Inszenierung kommt letztlich auch dadurch zustande, dass die größten erzählerischen Herausforderungen allesamt auf den zweiten Teil verschoben werden. Der Wandel Elphabas zum Hassobjekt von Oz, ihr Verhältnis zum Zauberer, die Genese der Bösen Hexe des Ostens und anderer wichtiger Figuren sowie insbesondere die Rückbindung von „Wicked“ an die vertraute Geschichte um das Mädchen Dorothy Gale sind allesamt herausfordernde Stränge, die in der Fortsetzung gemeistert werden wollen. Bis dahin aber darf der erste Teil einen Zauber entfalten, wie er im Kino der Attraktionen echte Seltenheit besitzt.