- RegieZhang Jialing
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2023
- Dauer97 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 6
- TMDb Rating8/10 (4) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Auch wenn man im Schulunterricht Orwells „1984“ gelesen und sich einst beim Boykott der Volkszählung engagiert hat, gewöhnt man sich im Laufe der Jahre an vieles. Zum Beispiel daran, dass im Rahmen der Einkommenssteuererklärung bei der Auswertung der Kreditkartenabrechnungen eine innere Dia-Show voller schöner Erinnerungen abläuft. Oder dass man tatsächlich dankbar ist, wenn in der Mail-Box eine Produktempfehlung aufpoppt, weil sie punktgenau trifft. Man ist kurz erschrocken, ärgert sich über sich als „gläsernen Bürger“ – und geht zur Tagesordnung über. Im Kino lässt man sich von Filmen wie „Der Staatsfeind Nr. 1“ oder „Eye in the Sky“ unterhalten und lernt aus den Nachrichten, dass man im Konfliktfall besser das Mobiltelefon ausgeschaltet lässt, mit Überwachungskameras rechnen sollte und sich besser von „Social Media“ fernhält.
Im Binnenraum staatlicher Überwachung
Mit der Corona-Pandemie allerdings kam ein Schub an Digitalisierung und Sammlung personenbezogener Daten. Während hierzulande vor allem mit Blick auf die Toleranzbereitschaft der Bürger politisch diskutiert wurde, ist man in China schon einige Schritte weiter. Davon erzählt der Dokumentarfilm „Total Trust“ der Exilchinesin Jialing Zhang, die sich mit ihrer Recherche gewissermaßen in den Binnenraum staatlicher Überwachung begeben hat. Anschaulich zeigt sie anhand dreier Exempel zumindest ansatzweise, wie es sich lebt, wenn man ins Blickfeld staatlicher Überwachung geraten ist. Es geht dabei vorzüglich um die „Säuberung des öffentlichen Raumes von Spurenelementen“ und „Gesten der Devianz vor dem Hintergrund polizeilich orchestrierter Affirmation“. Soll heißen: Es geht um die von der Politik ausgeübte Belohnung von Bequemlichkeit und Anpassung der Bevölkerungsmehrheit.
Individuelle Sichtbarkeit ist obsolet. Das bekommt etwa der Anwalt Weiping Chang zu spüren, der sich gegen Zwangsabrisse und Diskriminierung engagierte und nach einer Razzia der „Anstiftung zum Umsturz der Staatsgewalt“ angeklagt wurde. Ein Tatbestand, der sich durch seine produktive Definitionsfreiheit auszeichnet. Weiping Chang wurde 2020 inhaftiert, wartet auf seinen Prozess, wurde gefoltert und isoliert. Seine Ehefrau Zijuan Chen kämpft um seine Freilassung, wird aber ihrerseits seitens der Behörden drangsaliert.
Überwachen und Strafen
Es geht also einerseits um Überwachen und Strafen im hergebrachten Sinne, aber andererseits auch um die moderne Variante der von Gilles Deleuze benannten „Kontrollgesellschaft“, die tendenziell dadurch funktioniert, dass die Bestrafung vom Individuum antizipiert und gewissermaßen in die Körper „eingeschrieben“ wird. Nötigenfalls wird die Bewegungsfreiheit des Individuums durch den Einsatz von Technologie eingeschränkt.
In „Total Trust“ ist Félix Guattaris Zukunftsfantasie, dass man seine Wohnung, sein Haus, seinen Stadtteil, seine Stadt, seine Region nur verlassen kann, wenn die elektronischen Vorrichtungen dies zulassen, wahr geworden. Das Regime ist abstrakt, weil niemand mehr gefunden und benannt werden kann, der verantwortlich ist, wenn die App, die Bewegungsfreiheit ermöglicht, plötzlich nicht mehr funktioniert. Andere technologische Spielzeuge sind die elektronische Gesichtserkennung, die Überwachungskameras und die Sozialkredit-Systeme, deren aktueller Kontostand über Wohl und Wehe gebietet.
In „Total Trust“ kann man sehen, wie man als „Blockwart“ Pluspunkte sammelt, wenn man Auffälligkeiten und abweichendes Verhalten Dritter dokumentiert und „nach oben“ weiterleitet. Der Sozialkredit entscheidet dann über Reisebeschränkungen oder auch Zugang zu Privilegien. So beklemmend die Impressionen des chinesischen Regimes durch die unverfrorene, unelegant-brutale und kalt exekutierte Grobschlächtigkeit der Schikanen auch sind, so bewundernswert ist die Resilienz der Widerständigen, die – ohnehin alternativlos – immer weitermachen, Petitionen entwerfen, sich auseinandersetzen, sichtbar und unbequem bleiben.
Kein rein chinesisches Problem
„Total Trust“ beschränkt sich auf China, allerdings weiß das Pressematerial zum Film von KI-gestützter Videoüberwachung im Vorfeld der Olympischen Spiele in Paris 2024, von Debatten um den Einsatz von „Crime Prediction“-Software in Deutschland, von der Entwicklung neuer Überwachungstechnologien an den Außengrenzen der EU (Stichwort: Frontex), von Überwachung am Arbeitsplatz oder vom Zugriff der US-Strafverfolgungsbehörden auf die Daten der „Perioden“-Apps, um illegal gewordenen Abtreibungen zu begegnen.
Am Ende weiß man nicht so genau, was in „Total Trust“ als dystopischer zu charakterisieren ist: das wütende Einfordern „unproblematischer“ Konformität durch „besorgte Mitbürger:innen“, die ohnmächtigen Hilferufe hungernder Bewohner streng isolierter Hochhaus-Quartiere oder die Erzählungen des Anwalts Wang Quanzhang über seine Haftzeit, als er für jede Lebensäußerung schriftliche Anträge stellen musste, die bewilligt oder abgelehnt wurden. Auf Verstöße folgte Bestrafung. Wenn man schriftlich beantragen muss, ob man sich beim Schlafen umdrehen oder sich auf der Toilette hinsetzen darf, ist die Wartezeit bis zum Entscheid schon recht kafkaesk.
Doch sollte man, wie gesagt, nicht davon ausgehen, es hier mit einem rein chinesischen Problem zu tun zu haben. „Total Trust“ ist als Menetekel einzuschätzen. Wenig davon ist neu, aber die Wucht des Films über freiwillige wie unfreiwillige Disziplinierung nötigt doch gehörig Respekt ab.