Vorstellungen
Filmkritik
An der José-Urbina-Lopez-Grundschule in Matamoros beginnt ein neues Schuljahr. Hinter den Schülerinnen und Schülern werden die Tore aber mit schweren Ketten verschlossen. In dem mexikanischen Landstrich, der trotz Strand und Meer kein guter Ort für eine unbeschwerte Kindheit ist, dominieren Armut und Verbrechen. Die Schule ist davon auch geprägt. Der Betrieb muss irgendwie am Laufen gehalten werden; die Lernerfolge sind gering; man ist schon froh, wenn die Kinder überhaupt zum Unterricht erscheinen.
Der behäbige, aber gutmütige Direktor Chucho (Daniel Haddad) versucht sein Kollegium mit Krapfen und einer kleinen Rede zu motivieren. Man müsse seinen Job ernster nehmen, sich mehr für die Kinder einsetzen. Doch statt Freude am Lernen zu vermitteln, halten sich die Lehrkräfte an lustlose Disziplin und leidenschaftslosen Frontalunterricht. Wegen einer Schwangerschaft gibt es einen Neuzugang, doch sonst soll alles seinen gewohnten Lauf nehmen.
Ein Abenteuer des Geistes
Doch diesem vorhersehbaren Trott wird der neue Lehrer Beine machen. Nicht mit lautem Getöse; das ist nicht die Angewohnheit von Sergio Juárez Correa (Eugenio Derbez). Der kindlich wirkende Pädagoge öffnet vielmehr die Arme, indem er sich auf die gleiche Ebene mit seiner Klasse begibt und aus dem Unterricht ein Abenteuer des Geistes macht.
Als die Kinder den Klassenraum betreten, sind die Tische auf den Kopf gestellt und zu imaginären Rettungsbooten umfunktioniert. Verteilt euch, versucht alle zu retten! Von der Frage nach Menge, Rest und Verteilung ausgehend, eröffnet sich plötzlich ein ganzes Feld: Warum schwimmt ein Boot überhaupt? Nach erster Skepsis fangen die Schüler:innen Feuer und entdecken die Freude am Lernen. Die Problemklasse hat plötzlich eine Zukunft.
Diese pädagogischen Methoden sorgen aber auch für Verunsicherung. Während Direktor Chucho den idealistischen Kollegen unterstützt, machen sich andere Sorgen. Denn was schon über Jahre funktioniert, soll nicht aufgegeben werden. Correa aber lässt sich nicht so leicht einschüchtern und arbeitet mit unermüdlicher Energie für eine andere Schule.
Regisseur Christopher Zalla hat mit „Radical“ ein schimmerndes Juwel geschaffen, einen zärtlichen Film voller lebensbejahender Energie und ohne jede Spur von kitschiger Schulromantik. Im Unterschied zu Filmen wie „Der Club der toten Dichter“, in denen einzelnen Lehrern das Kunststück einer Revolution gelingt, spielt „Radical“ eine philosophische Idee durch, ohne in verkopftes Thesenkino abzugleiten. Der soziokulturelle Hintergrund der Kinder fließt ganz selbstverständlich mit ein, ohne dass die widrigen Umstände in den Vordergrund gerückt würden. „Radical“ ist lebendig, ein im Werden begriffener Film, weil die Figuren sich verwandeln und emanzipieren.
Die Kunst, sich selbst zu bilden
Etwa die intelligente Paloma (Jennifer Trejo). Ihr Vater, ein Müll- und Schrottsammler, kennt nur die harte Arbeit des Überlebens. Alle Hoffnungen auf ein besseres Leben sind für ihn nur Träume, die man sich leisten können muss. Die Angst der Eltern, die sich mit ihrer Situation abgefunden haben, ist vordergründig sozial bedingt. Letztlich aber sind die Erwachsenen von der Kraft der Emanzipation verunsichert: Bildung bedeutet für die meisten von ihnen das bloße Erlernen von Wissen. Für Correa aber ist es die Befähigung seiner Schülerinnen und Schüler, sich selbst zu bilden.
In dieser Hinsicht ist „Radical“ nahe an den pädagogisch-philosophischen Ideen eines Jacques Rancière, der in seinem Buch „Der unwissende Lehrmeister“ den Lehrer als Belehrenden aus dem Spiel nimmt. Statt funktionierender Bürger, die immer von der Bewertung derjenigen abhängig sind, die hierarchisch über ihnen stehen, sollen aktive, sich ihres eigenen Verstandes bedienende Menschen aus der Institution der Schule hervorgehen. Der Lehrer ist in diesem Konzept selbst Lernender, weshalb Correa als Erstes versucht, sein Pult aus dem Raum zu befördern und die strengen Stuhlreihen auflöst.
Das Fantastische an diesem leichtfüßigen Drama ist die Kunst, diesen Überbau niemals in dröges Erklärkino abdriften zu lassen. Dafür sind die Figuren mit viel zu großer Liebe gezeichnet, nicht wie die Zahnräder einer didaktischen Mission. Dazu kommt ein warmer, herzensguter Humor, der vor allem aus dem Zusammenspiel zwischen Daniel Haddad und Eugenio Derbez erwächst. Trotz mancher trauriger Momente will man diese Schule und ihren „unwissenden“ Pädagogen gar nicht mehr verlassen.