- RegieEnrique Sánchez Lansch
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer101 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
- IMDb Rating7.1/10 (14) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Sie umschmeicheln und umgarnen sich. Wie Flirts, fast schon wie abstrahierte Liebesspiele sehen die Choreografien in „Pol Pot Dancing“ von Enrique Sánchez Lansch oft aus. Arme, die sich ineinander drehen, Körper, die einander zu umranken scheinen wie Efeu einen Baum … Gleichzeitig intim und formalisiert – insbesondere die Stellung der Hände erhält viel Aufmerksamkeit, jeder einzelne Finger muss sich im exakt richtigen Winkel von den anderen abspreizen – wirkt der kambodschanische Tanz zumindest aus Laienperspektive. Ein Kritikpunkt, der im Film an einem Tänzer laut wird: „Noch nicht klebrig genug.“
Die zärtlichen, sanften Bewegungsfolgen der Tänze stehen in harschem Kontrast zum Thema des Films und auch der Performance, die in „Pol Pot Dancing“ einstudiert wird. Beide, Film und Tanz im Film, behandeln ein nur allzu gut bekanntes Ereignis aus der jüngeren kambodschanischen Geschichte, konzentrieren sich dabei allerdings auf einen wenig geläufigen Nebenaspekt. Es geht um die Terrorherrschaft der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 sowie den Völkermord, den die steinzeitkommunistischen Sozialexperimente dieser Zeit zur Folge hatten – ein nationales Trauma, das bis heute nicht einmal ansatzweise überwunden ist und das auch von „Pol Pot Dancing“ kaum abgeschwächt werden kann, wohl aber neu und überraschend kontextualisiert wird: Sánchez Lanschs Film zeichnet die Verbindungen des Rote-Khmer-Chefs Pol Pot zum Königspalast Kambodschas und insbesondere zur königlichen Tanzkompanie nach.
Zugang zu den inneren Kreisen des Königshauses
Selbst getanzt hat Pol Pot nicht, aber er war, so ist im Film zu erfahren, in seiner Jugend – damals noch unter seinem Geburtsnamen Saloth Sar lebend – künstlerisch interessiert und erhielt, obwohl er einer Bauernfamilie entstammte, unter anderem über seine Schwägerin Chea Samy, die Teil der königlichen Tanztruppe war, Zugang zu den inneren Kreisen des Königshauses. Einen kurzen Filmclip hat Sánchez Lansch ausgegraben, in dem Pol Pot, lange nach seiner Konversion zum Kommunismus, selbst über diese Zeit spricht. Im amüsierten Plauderton redet er über sein altes Leben. Weit weg scheint es für ihn zur Zeit der Filmaufnahme zu sein.
Mehr als 25 Jahre nach dem Tod des Schreckensherrschers ist es an der Zeit, Pol Pot das Tanzen beizubringen. So zumindest die Überzeugung Sophiline Cheam Shapiros, einer Choreographin, die ein Bühnenstück über das Leben Chea Samys und deren Beziehung zu Pol Pot erarbeitet hat – im Theater konnte sie es bislang nicht realisieren, aber dafür sind nun einige ihrer szenischen Ideen in Sánchez Lanschs Film eingeflossen. Die Rolle Pol Pots übernimmt Prumsodun Ok, ein kambodschanisch-stämmiger Amerikaner, dessen Eltern einst vor den Roten Khmer flohen und der inzwischen wieder im Land seiner Vorfahren lebt. Unter anderem sieht man ihn eine Szene tanzen, in der der junge Pol Pot zum ersten Mal die prunkvoll eingerichteten Räume des königlichen Palastes zu Gesicht bekommt. Die Erkundung einer neuen Welt vermittels verlangsamter, fließender Bewegungen des Staunens.
Der Tanz hat überlebt
Wie konnte aus dem sensiblen, freundlichen jungen Mann, als der der junge Pol Pot im Nachhinein immer wieder beschrieben worden ist, ein über Leichenberge gehender Fanatiker werden? Diese Frage wird in „Pol Pot Dancing“ wieder und wieder gestellt. Abschließend beantworten lässt sie sich selbstverständlich nicht. Wichtiger ist ohnehin, dem harschen Bruch, den der Terror der Roten Khmer sowohl in Pol Pots Leben als auch in der Geschichte Kambodschas darstellt, mit einer Gegenerzählung der kulturellen Kontinuität zu begegnen. Der kambodschanische Tanz, den die Kommunisten selbstverständlich ebenfalls mit Haut und Haaren auszurotten versucht hatten, hat überlebt – dank Chea Samy. Ab den späten 1980er-Jahren und bis zu ihrem Tod 1994 gab die inzwischen weit über 60-Jährige ihr Wissen an eine junge Generation von Tänzern und Tänzerinnen weiter, unter anderem auch an Cheam Shapiro.
So entsteht im Film langsam, aber sicher ein historisches Gespräch über Generationen hinweg: Chea Samy rettet den Tanz, den sie selbst in den 1920er- und 1930er-Jahren erlernt hatte, in die 1980er-Jahre hinüber, Cheam Shapiro und Prumsodun Ok führen ihr Werk in der Jetztzeit fort – und kehren in ihrer Performance gleichzeitig in spielerischer Form zurück in eine Zeit, die vom kommenden Schrecken noch nichts ahnte. Die millionenfachen Morde der Roten Khmer sind plötzlich nur noch ein Ereignis unter mehreren.
Tanzstunden voller Sorgfalt
Im Film artikuliert sich das als Montage von Filmmaterial aus ganz unterschiedlichen Quellen. In der Gegenwart filmt Sánchez Lansch neben Tanzperformances und Interviews mit den beteiligten Künstlern auch Alltagsbeobachtungen aus dem modernen Phnom Penh. Daneben steht Archivmaterial. Besonders eindrücklich sind Videoaufnahmen der Tanzstunden, die Chea Samy in ihren Lebensjahren gegeben hat – neben der Sorgfalt, die die alte Frau noch auf die subtilsten Ausdrucksbewegungen ihrer Schüler verwendet, verblassen die – deutlich geläufigeren – Schwarz-weiß-Aufnahmen über den Aufstieg und Fall der Roten Khmer zumindest vorübergehend.