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Filmkritik
Bram Stokers Roman "Dracula", in der Tradition der englischen "Gothic Stories" (Schauerromane) geschrieben, diente Drehbuchautor Henrik Galeen als Vorlage für den Film, der zum Prototyp und Urbild aller künftigen Schauerfilme werden sollte. Als Murnau ihn vor fast einem halben Jahrhundert drehte, wird er freilich ebenso wenig daran gedacht haben, damit ein Filmkunstwerk zu schaffen, wie etwa Buster Keaton bei den Dreharbeiten zu "Der General". Beide wollten ihr (zeitgenössisches) Publikum unterhalten. Und beide konnten ebenso wenig ahnen, daß Jahrzehnte nach ihrer Arbeit ihre Filme zu Klassikern erklärt würden. Keatons "General" ebenso wie Murnaus "Nosferatu" wird ohne Zweifel nur gerecht, wer ihre Filme auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet: Sie verlieren dadurch nicht nur keineswegs an Bedeutung, sondern beweisen im Gegenteil sogar die Richtigkeit der These, daß gut gemachte Unterhaltung auch Kunst und Kunst auch unterhaltend sein kann. - Stokers Story gibt das Grundmuster für alle Vampirfilme ab, die in den vergangenen fünfzig Jahren gedreht wurden: Ein auf seinem Schloß begrabener "Untoter" erhebt sich aus seinem Sarg und lebt weiter, indem er sich vom Blut Lebender nährt, vornehmlich junger Mädchen. Besiegt werden kann er erst, wenn eine Unschuldige sich ihm freiwillig hingibt. Dieser aus Aberglauben und alten Todesmythen gespeiste Sachverhalt dient freilich Autor Stoker und Drehbuchverfasser Galeen ebenso wie Regisseur Murnau nur dazu, durch geschickte Stimmungseffekte im Leser oder Zuschauer Grusel hervorzurufen. Sind es bei Stoker die überdeutlich gezielten Adjektive und Stimmungsattribute, die diesen Erfolg beim primitiven Lesergemüt garantieren, so bedient Murnau sich der optischen Möglichkeiten des noch jungen Mediums Film - und darin ist er, etwa 25 Jahre nach dessen Erfindung, noch immer nicht minder experimentier- und entdeckungsfreudig als Kinopionier Georges Meliés. Es ist die Zeit der Eisenstein und Pudowkin, die große Zeit der immer neuen Erkenntnisse der vielen Möglichkeiten, die das neue Medium bietet. Murnau geht es vor allem um die Erprobung von Lichtwirkungen, und mit "Nosferatu" sind ihm Effekte gelungen, die noch immer ihresgleichen in der Filmgeschichte suchen. Die Geschichte, banal-gruselig wie sie nun einmal ist, hätte bei einem minder Begabten gewiß nicht mehr hergegeben als ein vordergründiges Gruselstück. Bei Murnau schwelt der leise Terror hinter den Bildern: Perspektivisch verzerrte Einstellungen, vom Expressionismus beflügelt, und vage Grautöne suggerieren Schrecken, wo er sich von der mageren Story her kaum einstellen könnte. Das Spiel der Darsteller ist expressiv, wie es nun einmal damals (und wegen des Stummfilms) nicht anders sein konnte. Daß der Film auch heute, nach fast fünfzig Jahren, dem Zuschauer immer wieder das naheliegende Lachen in der Kehle steckenbleiben läßt, liegt an der kunstvollen Ausnutzung aller Murnau zu Gebote stehenden optischen Mittel. "Nosferatu" ist nicht nur der beste bis heute gedrehte Vampirfilm, es ist der einzige, der Anspruch darauf erheben kann, ernst genommen zu werden. Freilich setzt er im Zeitalter raffinierter Toneffekte und der Farbe (Blut ist eben bei Murnau noch schwarz) eine erhöhte Aufmerksamkeit des Zuschauers voraus, eine Bereitschaft, sich in dieses sensitive Kunstwerk einzufühlen, das - was nichts gegen den Wert dieses Films besagt - bereits Museum geworden ist.