- RegieFarahnaz Sharifi
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer82 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Im Alter von sieben Jahren besuchte Farahnaz Sharifi zum ersten Mal ein Fotostudio. Die Aufnahme für die Einschulung war das erste Bild, das sie mit Hijab zeigte; ein Mädchen mit ernstem Gesicht. Unzählige weitere folgten, auf Ausweispapieren und anderen amtlichen Dokumenten. Andere Bilder wurden in der Öffentlichkeit aufgenommen; auf einem Gruppenfoto ist sie unter den ebenfalls verschleierten Freundinnen nur schwer auszumachen. Parallel dazu entstanden andere Bilder. Sharifi, die 1979 im Jahr der Islamischen Revolution geboren wurde, erinnert sich, wie sie nach der Schule den Hijab abnahm, sobald sie den Hof betrat. Auf einem Foto lächelt sie mit kurzen Haaren und Schuluniform in die Kamera, in der einen Hand den Schulranzen, in der anderen Hand die Kopfbedeckung. Es ist eine andere Farahnaz Sharifi.
Autobiografie eines Doppellebens
„My Stolen Planet“ ist die Autobiografie eines Doppellebens. Zusammen mit vielen anderen, anonym bleibenden Leben wird sie zur kollektiven Erzählung verbunden. Visuelle Dokumente wie Fotos, Film- und Videoaufnahmen fungieren dabei als Speichermedium für Erinnerungen, als Dokumente gegen das Vergessen. Sie sind aber auch Zeugnisse einer Realität, die offiziell nicht existierte. Unter den Bedingungen der Diktatur bekommt der Begriff „Home Movie“ eine andere, eine subversive Bedeutung.
Farahnaz Sharifi ist eine an der Universität in Teheran ausgebildete Filmemacherin; ihre Dokumentarfilme entstehen meist auf der Basis von Archivmaterial. Für „My Stolen Planet“ hat sie eigene Bilder mit Found Footage zu einer tagebuchähnlichen Erinnerungserzählung verknüpft. Die Bedeutung der Handykamera für die immer wieder aufflammenden Protestwellen im Land ist bekannt, von den Großdemonstrationen nach der iranischen Präsidentschaftswahl 2009 bis hin zu den Protesten nach dem durch Polizeigewalt herbeigeführten Tod von Jina Mahsa Amini 2022. Auch Sharifi öffnete das Medium, das erstmals Bilder der staatlichen Gewalt und der darauffolgenden Proteste in die medialen Kanäle spülte, eine Tür. Sie begann alles aufzuzeichnen.
Die Erinnerungen anderer Menschen
Die Bilder im Film zeigen, was außerhalb der vier Wände als Verbrechen gebrandmarkt ist: das Tanzen, die Musik, die Freude. Keinen Hijab zu tragen. Dass an den Wänden der Wohnung ein Bild des religiösen Führers Ayatollah Chomeini hängt, macht daraus erst recht Gesten des Widerstands. Auf alten Super-8-Filmen, die die Dokumentaristin obsessiv zu sammeln beginnt, findet sie ähnliche Bilder: „Ich kaufe die Erinnerungen anderer Menschen.“ Die meisten Personen, die auf den Aufnahmen zu sehen sind, mussten ins Exil gehen; diejenigen, die geblieben sind, haben die Zeugnisse ihres Lebens aus Angst vernichtet. Leyla, eine während der Revolution in die USA emigrierte Hochschulprofessorin, die über das Gesangsverbot im Iran forscht und Sharifi kontaktiert, könnte eine der tanzenden Frauen sein. Ihre Geschichte schreibt sich in das anonyme Archiv ein.
„My Stolen Planet“ ist auch die Geschichte einer Wiederbelebung des fast in der Unsichtbarkeit Verschwundenen – und das im wörtlichen Sinn. Das analoge, teils beschädigte Material flackert und grisselt; Sharifi arbeitet mit Vergrößerungen, Unschärfen und Zooms. Die Eingriffe betonen das Überindividuelle der Bilder, sie werden zum Resonanzraum für unterschiedliche Erfahrungen von Unterdrückung, Exil, Widerstand und Solidarität.
Es gibt kein Zurück
Während Sharifi gegen das Vergessen anarbeitet, schreitet die Demenzerkrankung ihrer Mutter weiter voran. Ihrem Begräbnis muss sie per Videoschalte beiwohnen. Während einer Residency in Deutschland gibt es im Iran eine Verhaftungswelle unter Dokumentarfilmemacherinnen. Die Sicherheitspolizei durchsucht ihre Wohnung, konfisziert Speichermedien und Material. Farahnaz Sharifi kann nicht in ihre Heimat zurückkehren. Vielleicht, so ihre Gedanken, wird jemand irgendwann einmal ihr privates Archiv finden und einen Film daraus machen.