- RegieSven Halfar
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2022
- Dauer103 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 0
Vorstellungen
Filmkritik
Sie singen Songs von Udo Lindenberg, Nirvana, Fettes Brot und von den Fantastischen Vier, voller Inbrunst und Elan, mit Schwung und viel Power. Bei ihren Auftritten präsentieren sich die silberhaarigen Sängerinnen und Sänger als echte Showtalente; ihre durchchoreografierten Auftritte haben beinahe schon Revuecharakter. Es dauert nicht lange, bis sich die übermütige Stimmung in den Zuschauerraum ergießt – eine unwiderstehliche Mischung aus überschwappender Energie und inbrünstigen Gefühlen. Der Chorleiter ist immer mit dabei, er agiert lebhaft, dirigiert und muntert auf, treibt die Truppe an und schafft dabei eine kreative Symbiose, in der es irgendwann keine Rolle mehr spielt, ob alle wirklich richtig singen. Die Masse macht’s und die Liebe zum Gesang, zur Bewegung, zum Miteinander.
Die Kamera ist mit dabei
Es gibt in „Heaven Can Wait - Wir leben jetzt“ Solistinnen und Solisten, die sich durchaus selbstbewusst in Szene setzen, allen voran die gelernte Opernsängerin Joanne, die als schwarze US-Amerikanerin schon viele Jahre in Deutschland lebt und oft in Musicals mitgespielt hat. In der Chorgemeinschaft ist sie als Profi eigentlich eine Ausnahmeerscheinung. Doch sie hat hier ihren Platz gefunden, wo sie ihre Liebe zur Musik, ihre Herzlichkeit und ihre Lebensfreude mit anderen teilen kann.
Im flotten Wechsel zeigt Sven Halfar Bilder von Auftritten und Proben sowie Interviews mit einzelnen Chormitgliedern. Sein weitgehend beobachtender Dokumentarfilm wird von einer lebhaften Kamera dominiert, die sich immer wieder zwischen die Menschen schlängelt, deren Bewegungen aufnimmt und Räume entdeckt. Dazu erklingt leichte Pianomusik im Walzertakt, die den freundlichen Gesamteindruck verstärkt. Die Abläufe sind eher weniger chronologisch, stattdessen lässt sich die Entwicklung von Songs bis zur „Bühnenreife“ beobachten. Die ersten Proben mit einem neuen Lied, Textunsicherheiten, falsche Töne. Aber das alles ist kein Problem.
Wenn die älteren Menschen die modernen Hits interpretieren, bekommen die Texte manchmal eine unerwartete Tiefe. „Emanuela“ von „Fettes Brot“ wird auf diese Weise zur ironischen Hymne und zum humorvollen Bekenntnis. Die Tonalität bleibt locker, entwickelt sich aber langsam und entspannt, die Hamburger würden sagen: ganz sutje, von einer unverbindlichen, lustigen Begegnung mit ein paar fröhlichen Menschen zu einer intensiveren, am Ende beinahe nachdenklichen, aber durchweg optimistischen Auseinandersetzung mit dem Alter und dem Altern.
Fordern & fördern
Von Besinnlichkeit ist hier jedoch keine Spur, es wird viel gelacht, oft strahlen die Akteurinnen und Akteure pure Lebenslust aus. Der Chor und das Singen sind als fester Bestandteil ihres Lebens Seelenwäsche wie auch sportliche Aktivität; sie fordern wie fördern Emotionen und körperliche Beweglichkeit. Die Corona-Zeit trifft sie hart. Die anderen lediglich am via Zoom-Konferenz zu sehen, ist ein unzureichender Ersatz. Als es endlich weitergeht, sind sie kaum zu bremsen.
Für diese Menschen sind das Sterben und der Tod keine Tabus mehr. Alle Chormitglieder haben die 70 überschritten, die meisten sind in ihren Achtzigern. Diese Generation hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt, Hunger, Flucht, Vertreibung. Die meisten hatten nie Zeit für Gefühle – oder sich dagegen gewehrt. In der Musik finden sie sich wieder, und für einige von ihnen wird das gemeinsame Singen zu einer Art Therapie. Etwas für den 82-jährigen Diet, der im Chor nicht nur eine neue Aufgabe für sich gefunden hat, sondern auch eine Möglichkeit, seine Emotionen zu zeigen.
Allen Choristinnen und Choristen ist gemeinsam, dass sie großen Wert auf ihre Autonomie legen. Sie haben keine Angst mehr, außer davor, hilflos und von anderen abhängig zu sein. Manche sind gläubig, doch die meisten beschäftigen sich mehr (oder lieber) mit dem Gesang als mit philosophischen Fragen. Der Chor bietet ihnen die Möglichkeit, aktiv und durchaus ehrgeizig nicht nur musikalische Ziele zu verfolgen. Hier finden sie sich wieder, hier können sie, je nach Talent und Neigung, Auftritte und Proben mitorganisieren und Freundschaften schließen, an ihren Gesangskünsten arbeiten oder mit Improvisationen zu mehr Lockerheit finden.
Die heilsame Wirkung der Musik
So wird der Chor und alles, was dazugehört, zum Dreh- und Angelpunkt für die letzten, glücklichen Jahre: Er schafft Glücksmomente. Die waren im Leben mancher rar gesät. Aber jetzt ist alles anders, denn sie singen gemeinsam, sie genießen das Leben und die Freiheit.
„Heaven Can Wait - Wir leben jetzt“ ist ein Film, der sich voll und ganz seinen sympathisch-charismatischen Protagonistinnen und Protagonisten überlässt. Ein Film, der Mut macht und einmal mehr die heilsame Wirkung von Musik zeugt.