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Filmkritik
1977 begegnen sie sich zum ersten Mal: Harry Burns verabschiedet sich auf dem Gelände der Chicagoer Universität von seiner Geliebten, um nach New York zu reisen; Sally Albright, die in New York eine Journalistenschule besuchen will, bietet ihm eine Mitfahrgelegenheit. Übergangslos "überfällt" Harry die junge Frau mit provokanten Fragen und einer Haltung, die zwischen Arroganz und Charme pendelt. Sally reagiert empört auf seine dreisten Ansichten zu Sex, Frauen und Liebe, verteidigt sich vehement, ärgert sich im selben Moment aber darüber, weil sie weiß, daß sie dies gar nicht nötig hätte. Doch Harrys Art, mit Lebensweisheiten und Weltbildern zu jonglieren, fordert sie ebenso heraus, wie sie sich irgendwo in ihrem Innern davon angesprochen zu fühlen scheint. Als sie sich in New York trennen, haben sie sich nur über eines geeinigt: daß Männer und Frauen nie Freunde sein können, weil ihnen immer "der Sex" dazwischen käme.
Fünf Jahre später sind bei beiden die Weichen zur beruflichen Karriere gestellt. Zufällig begegnen sich Harry und Sally auf dem New Yorker Flughafen, und sofort sind sie wieder in Diskussionen und Dispute verstrickt, wollen in der Kürze der Zeit ihr ganzes Dasein vor dem anderen ausbreiten, spüren aber die Grenzen eines Konsenses allzu deutlich. Auf dem Laufband im Zielflughafen trennen sie sich. Weitere fünf Jahre später; inzwischen ist Sally 31 Jahre alt. Beide haben Pech mit ihren Beziehungen, werden unter den "Sachzwängen" zu "Singles". Als sie sich erneut treffen, scheint doch Freundschaft möglich. Sie raufen sich zusammen, teilen kleine und große Geheimnisse, diskutieren und streiten weiter, sind im Grunde ein ideales Paar, das jedoch keine sexuelle Beziehung eingeht. Bis sie erkennen, wie sehr sie einander brauchen und daß da doch längst Liebe im Spiel ist, bedarf es noch weiterer ereignisreicher Monate.
Mit einem Minimum an Handlung und einem Maximum an Rededuellen scheint "Harry und Sally" denkbar schlechte Voraussetzungen für einen guten Film mitzubringen. Doch wider alle Gesetzmäßigkeiten lassen zwei brillante Darsteller, ungemein treffsichere und pointierte Dialoge sowie eine zurückhaltend-behutsame Inszenierung den Film zu einem großen Kinoereignis werden, das weit mehr zu bieten hat als manches Effekt-Spektakel und (facetten-)reicher und sogar ernsthafter ist, als der komödiantische Anstrich vermuten läßt. Wie in einem Sog wird der Zuschauer in das Leben der beiden Protagonisten einbezogen, hört ihre Ansichten, sieht ihre kleinen Marotten, teilt ihre Gefühle: Harry und Sally werden zu guten Freunden.
Inszenatorisch bedient sich Rob Reiner einerseits der Ikonografie der amerikanischen Ehe- und Liebeskomödien der späten 50er Jahre, als in Filmen wie "Bettgeflüster" Männer und Frauen zunächst stets Rivalen waren; mit viel Witz zitiert er mehrere Telefondialoge (im Split-Screen-Verfahren aufbereitet), wie sie in solchen Filmen zum Repertoire gehören. Andererseits ist der Film weit entfernt von der Prüderie dieser Filme, spricht vielmehr in aller Deutlichkeit aktuelle Probleme an: da geht es um Ängste und Sorgen, um Sehnsüchte und Ansprüche, die mit menschlichen Beziehungen gekoppelt sind. Ganz spielerisch, ohne doktrinär zu werden, spiegelt die "Odyssee" von Harry und Sally einen ganzen Kosmos an Lebensentwürfen, der sich nahe am realen Alltag orientiert und jede vorschnelle Mythisierung vermeidet.
Zwischen die "Etappen" in Harrys und Sallys Leben sind als "dokumentarisch" ausgegebene Interviews einmontiert, in denen alte Ehepaare nach vielen Jahrzehnten gemeinsamen Lebens Auskunft geben über ihre Beziehung; mit subtilem Witz, aber ohne denunziatorisch zu sein, karikiert Reiner den Mythos der wie ein Blitz einschlagenden "ewigen Liebe". Am Ende sitzen aber auch Harry und Sally auf einem Sofa und geben Auskunft; doch sie erscheinen dem Betrachter trotz des "Geschenks" der jetzt glücklichen Beziehung als starke Individuen, die sich durch treffliches Streiten so manches "erarbeitet" haben, was auch Wunden geschlagen hat. Sicher: Frank Sinatra singt während des Films "It had to be you" ("Du mußtest es sein"), aber es ist alles doch immer viel komplizierter als im Jazz-Schlager. Trotz solchen inhaltlichen "Gewichts" ist "Harry und Sally" eine der fröhlichsten Komödien der vergangenen Jahre, in der es viel zu lachen gibt. Es ist dies nie ein Lachen auf Kosten der Protagonisten; vielmehr lacht man mit ihnen, was jener überaus sympathischen Form der Lebensbejahung entspricht, die der Film ausstrahlt.