- RegieHeidi Specogna
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer88 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
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Filmkritik
Für die Yanomami ist die Fotografin und Menschenrechtsaktivistin Claudia Andujar eine Art Mutter. Die gebürtige Schweizerin fand ihrerseits in ihrer Gemeinschaft im venezolanisch-brasilianischen Grenzgebiet den Sinn ihres Lebens. In ihrer Kindheit floh Andujar mit ihrer Mutter vor den Nazis aus Transsilvanien in die Schweiz. Ihr jüdischer Vater und dessen Familie wurden in Konzentrationslagern getötet. 1945 emigrierte sie in die USA, studierte und arbeitete als Fotografin. Mitte der 1950er-Jahre folgte sie ihrer Mutter nach Brasilien. Hier begann sie, sich für indigene Ethnien zu interessieren. Die Begegnung mit den Yanomami prägte ihr Leben bis in die Gegenwart nachhaltig. Claudia Andujar, die 1931 geboren wurde, ist inzwischen über 90 Jahre alt und lebt in São Paulo.
Fotografieren, um zu leben
Zu Beginn von „Die Vision der Claudia Andujar“ erzählt eine ältere Frau der Yanomami, dass sie bei ihrer ersten Begegnung zunächst Angst vor Andujar hatte. Doch als die Fotografin erklärte, „Ich sehe dich durch meine Kamera und mache ein Foto von dir“, habe sie sich besser gefühlt. Später berichtet Andujar davon, wie wichtig es sei, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, wenn man sie fotografieren wolle.
Der Film macht deutlich, was ihre Fotografien so bedeutsam macht. Es ist nicht der ethnografische Blick auf das Fremde, sondern die Perspektive einer Frau auf Menschen, die ihr selbst einen Sinn im Leben gegeben haben. Ihre Schwarz-weiß- und Farbfotos sind wertschätzend; sie urteilen nicht. Unter den zahlreichen Aufnahmen finden sich auch inszenierte Fotos, in denen die Yanomami für die Kamera posieren. Darunter sind auch auffallend kunstvolle Bilder, etwa das eines Jungen, dessen Kopf aus einem unwirklich blau-weißen Wasser ragt, mit dem für die Yanomami typischen Schmuck der Lippenpflöcke um die Mundpartie.
Einmal sagt Andujar, dass sie und die Yanomami eine Einheit bilden und dass sie nach dieser Einheit mit Menschen immer gesucht habe. Der Frage, ob ihr Blick auf die indigenen Menschen von derart viel Liebe und Zuneigung geprägt ist, dass darüber Ambivalenzen ausgeblendet werden und ein vielleicht allzu verklärtes Bild eines idealistischen „Naturvolkes“ entsteht, geht der Film nicht nach. Die Wertschätzung der Filmemacherin Heidi Specogna für die Protagonistin und ihr Werk scheint von ähnlicher Dominanz wie die Wertschätzung Andujars für die Yanomami.
Ein Ansatz, um zu helfen
Andujar hat mit den Yanomami viele Jahre ohne Kontakt zur Außenwelt zusammengelebt. Währenddessen wurde eine Bundesstraße durch deren Gebiet gebaut und der Abbau von Gold vorangetrieben. Die von Weißen eingeschleppten Krankheiten Tuberkulose und Masern breiteten sich aus. Andujar beendete ihre fotografische Tätigkeit und widmete sich fortan der humanitären Hilfe. Diese begleitete sie vermutlich mit der Videokamera; auf diesen Wechsel, der im Material zu erkennen ist, geht der Film aber nicht weiter ein. Mit anderen Mitstreitern begann Andujar, Impfungen für die Yanomami zu organisieren. Der Staat wollte nichts gegen das Sterben unternehmen. Um Gesundheitsakten anzulegen, fotografierte sie Jung und Alt und nummerierte die Fotos durch, da sich die Yanomami dem Verständnis von Andujar nach keine Namen geben. Während die Nazis Juden markierten, um ihre Ausrottung zu organisieren, markierte Andujar – darauf geht sie kurz ein – die Yanomami, um ihre Ausrottung zu verhindern.
Durch fortwährende Interventionen, auch auf internationalem Parkett, gelang es schließlich, die brasilianische Regierung zu bewegen, den Yanomami ihr eigenes Territorium zu überlassen, das niemand betreten darf. Doch der Raubbau an der Natur und der schonungslose Abbau von Rohstoffen wie Gold machen bis heute auch vor dem Gesetz nicht Halt.
Dem Nachwuchs die Kamera geben
Die Dokumentarfilmerin Heidi Specogna entfernt sich im letzten Teil des Films von der Protagonistin und überlässt dem Nachwuchs das Feld. Junge indigene Frauen greifen selbst zur Kamera und dokumentieren das Unrecht, das ihnen widerfährt. Sie interviewen Frauen, die von der Verseuchung ihres Sees mit Quecksilber berichten, das beim Goldschürfen benützt wird. Sie verwenden Drohnenkameras, um sich einen Überblick über das Territorium zu verschaffen und Orte auszumachen, wo illegal Bäume gefällt werden. Ihre Filme laufen auf neu gegründeten indigenen Filmfestivals.
Ein Großteil der Fotografien von Claudia Andujar ist im Museum of Contemporary Art Inhotim ausgestellt, viele tausend Kilometer von der Region entfernt, in der die Yanomami leben. Gemeinsam mit ihrem Mitstreiter, dem Missionar Carlo Zacquini, sieht man Andujar ihre Bilder betrachten und in Gedanken in die Vergangenheit zurückkehren. Der Film lässt sich so auch als Reflexion über das Verhältnis von audiovisuellem Bewegtbild und Fotografie im Brennpunkt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lesen. Andujars Kindheitserinnerungen, ihre Bilder der Yanomami, die mit Musik untermalten Filmaufnahmen von Heidi Specogna und die Beweisbilder, die die Frauen der Yanomami mit ihren Digitalkameras aufnehmen, konvergieren zu einem Palimpsest medialer Visionen.