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Filmkritik
Mit blondem Extensions-Pferdeschwanz und aufgespritzten Lippen stapft eine junge Frau einen Kanal entlang, am Rande von Fréjus in der sonnengebleichten südfranzösischen Provinz. Das Glitzerkleid, das sie trägt, hat sie gerade erst gekauft, es war absurd teuer und sitzt eng, aber sie hat es sich verdient, wird es sich verdient haben. Denn sie ist Kandidatin in der Vor-Auswahl für eine Reality-TV-Show namens „Miracle Island“. Wie sie da so marschiert, spricht ihr ganzer Körper: Du brauchst ein breites Kreuz, wenn du auf Plateau-Stilettos durchs Leben balancieren willst.
Es folgt in dieser Szene von „Wilder Diamant“ klassisches Catcalling. Jungs auf Motorrädern nehmen die Verfolgung auf, umzingeln die Frau. Sonst enden solche Filmszenen eher damit, dass das Traumkleid zerfetzt im Gebüsch landet und der Film als berührendes Drama über Gewalt gegen Frauen gelabelt wird. Aber so läuft das nicht bei Liane (Malou Khebizi). Sie stapft weiter, dreht sich nur hin und wieder um und fordert „ein bisschen Respekt, bitte“. Sie ist keine Prinzessin. Sie ist eine Kriegerin. Ihr wird nichts passieren.
Von der Balken-Augenbraue bis zur Fingernagel-Kralle
Das in Cannes gefeiertes Debüt von Agathe Riedinger erzählt vom weiblichen Körper und seiner eigenen, machtvollen Blick-Politik auf eine Weise, wie es sie selten, vielleicht sogar noch nie gegeben hat. Von der Balken-Augenbraue bis zur modellierten Fingernagel-Kralle mit Bling-Bling hat Liane, hochkonzentriert und mit Würde gespielt von der Laienschauspielerin Malou Khebizi, alles, was es braucht, um von Kennern gotischer Baukunst als lächerlicher Auswuchs der Gegenwart verstanden zu werden. Aber was genau hat man dann eigentlich verstanden, von der Gegenwart und den Menschen in ihr?
Das Zimmer der Heldin ist vollgestopft mit Accessoires, Schuhen und Kosmetik. Wer Schönheit erreicht und einsetzt, hat Macht, davon ist sie überzeugt. In Läden reißt sie deshalb Glitzersteinchen von Klamotten, um damit die turmhohen Absätze ihrer Schuhe zu bekleben, in denen sie in den Sozialen Medien posiert und tanzt. Ein rührendes Aufbegehren gegen die Armut für ein wenig Luxus-Simulation, denkt man da noch.
All das ist für Liane aber keineswegs Tand, wie Noé Bachs zugewandte, vorurteilsfreie Kamera bald begreifbar macht, sondern ihr Arbeitsgerät. Und insofern kaum von ihrem Körper mit den operierten Brüsten zu unterscheiden. Sie braucht das alles, um rauszukommen aus ihrer trostlosen Welt. Wie eine farbgesättigtere Version von Andrea Arnolds „Fish Tank“, den Riedinger als einen ihrer Lieblingsfilme bezeichnet, folgt „Wilder Diamant“ den Sehnsuchtsbewegungen einer jungen Frau hinaus aus der prekären Enge.
Durch die Follower leben
Von ihrer resignierten Mutter Sabine (Andréa Bescond) wurde sie als Kleinkind ins Heim geschickt, was sie ihr nicht verzeiht. Um ihre kleine Schwester Alicia (Ashley Romano), die bereits noch dickere Augenbrauen-Balken trägt und für die sich die Mutter kaum interessiert, kümmert sich vor allem Liane. Doch in diesem Jammertal steckt sie nur zum Teil fest. Der andere, wichtigere Teil lebt durch die Follower. Seit eine Casting-Direktorin auf sie aufmerksam wurde, hofft sie darauf, demnächst Bescheid zu bekommen, ob sie in „Miracle Island“ mitspielen darf. Entschlossen setzt sie fast alles daran, dieses Ziel zu erreichen, „sonst bringe ich mich um“.
So genau und unvoyeuristisch Riedinger Lianes Körperarbeit ins enge 4:3-Format rückt, so vehement entzieht sie das Trash-TV dem wertenden Zuschauerblick, ohne irgendetwas an seinen Prämissen wie Hypersexualisierung und problematische Geschlechterbilder zu verharmlosen. Sie entkernt die Show stattdessen auf ihre Funktion als Verheißung, gespiegelt nur in den Gesichtern und Gesprächen Lianes und ihrer Freundinnen. „Miracle Island“ spielt sich also wie ein Jenseits-Mythos im Off und in den Seelen ab und verlangt von Liane, ganz „sie selbst“ zu sein. Etwa, dass sie „keine Heilige“ sei. Bei diesen Worten der Casting-Direktorin stutzt sie ein wenig, denn ihr Verlangen gilt nicht dem Sex, sondern ganz ihrer selbstgewählten Aufgabe. Sie ist keusch, wie eine Kriegerin eben ist, die sich aufs Wesentliche konzentrieren muss. Dass sie wütend ist auf respektlose „Fuck boys“, gefällt der Casterin. Denn „Wut bringt die Welt voran“. Sie meint: Einschaltquoten und viel Traffic.
Körperkult und tiefer Glauben
Riedinger vermischt in der Kunst-Figur Liane einen archaischen, weibliche Souveränität feiernden Körperkult mit einem tiefen christlichen Glauben. Im Zug betet Liane einmal und trägt dabei ein T-Shirt mit Strichcode, als könnte der ihren Wert beziffern. Dino (Idir Azougli), dem einzigen jungen Mann, zu dem sie Vertrauen fasst, weil er wie sie das Kinderheim von innen kennt, spricht sie einmal ein Gebet an den heiligen Josef vor – in einer Szene, die in anderen Filmen wiederum in einen sexuellen Übergriff gemündet wäre. Die Wunden an ihren geschundenen Füßen und das Mal auf ihrem Bauch, das sie sich ritzt, um die Follower mit einem selbstgemachten Tattoo zu beeindrucken, offenbaren einen unbedingten Willen, der Dino beeindruckt.
„Wilder Diamant“, aus einem früheren Kurzfilm Riedingers hervorgegangen, schafft es aus dieser Perspektive sogar, Lianes kitschbeladenes Zimmer plötzlich die melancholische Aura einer fast klösterlichen Einsamkeit zu verleihen, ohne dabei den Druck, der auf jungen Frauen lastet, auf irgendeine Weise zu rechtfertigen.
Im Gegenteil rückt sie die Agenten solcher Dynamik in unseren Blick: uns selbst. Beim Casting, wo Liane frontal zu sehen ist und wir als Zuschauerinnen die Perspektive der Interviewerin einnehmen, also der wertenden, allmächtigen, unsichtbaren Instanz; oder auf dem Sozialamt, wo die Sachbearbeiterin sich mütterlich sorgt, was denn eine Reality-TV-Karriere bringen solle (Antwort: „Es bringt die Leute zum Träumen“); oder beim plastischen Chirurgen, diesem Schöpfer, der ihr verschiedene Po-Implantate zeigt: Das Göttliche im Profanen, das Erhabene im Lächerlichen zu finden, hat nicht selten etwas Angestrengtes. Bei Riedinger und ihrer Hauptdarstellerin strahlt es aus den Bildern selbst hervor, mit einer farblichen Kraft und einer inneren Unruhe, die in Szenen der Transzendenz gipfeln: Beim Tanzen im Club übernimmt auf der Tonspur ein Cello, der Beat verstummt, und Liane wird selbst zum Subjekt des Blicks, entrückt und staunend betrachtet sie die Tänzerinnen auf der Bühne. Sie ist nicht nur Kriegerin, sie ist eine Gläubige, und sie betet die Schönheit an.