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Filmplakat von Wir sind so frei

Wir sind so frei

97 min | Dokumentarfilm | FSK 12
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In einer Langzeitbeobachtung dokumentieren die Filmemacher Christian Lehmann-Feddersen & Alf Schreiber die gesellschaftlich-politischen Nachwehen des G20-Gipfels in Hamburg. Während Aktivist*innen dem juristischen Nachspiel ausgesetzt sind, formieren sich im Schatten des Gipfels das kapitalistische System und der Widerstand neu.
  • RegieChristian Lehmann-Feddersen
  • ProduktionsländerDeutschland
  • Produktionsjahr2024
  • Dauer97 Minuten
  • GenreDokumentarfilm
  • AltersfreigabeFSK 12

Vorstellungen

SCALA Programmkino Lüneburg
SCALA Programmkino Lüneburg
Apothekenstraße 17
21335 Lüneburg

Filmkritik

Es ist alles nicht so einfach. Kurz vor Schluss versucht „Wir sind so frei“ von Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber doch noch, all die unterschiedlichen Fäden zusammenzuführen, die der Film zuvor gut 100 Minuten lang ausgebreitet hat. Als Grundlage dient ein Vortrag des Soziologen John Holloway, der von neuen Formen sozialer Kämpfe spricht, die er kapitalismuskritisch auf die Formel „Geld bedeutet Ökozid!“ bringt. Seiner Rede sind Bilder unterlegt, die vorab im Film schon zu sehen waren. Der Kampf gegen Ausbeutung und der Kampf gegen die Folgen der Erderwärmung seien, so Holloway, lediglich zwei Seiten einer Medaille. Am Ende steht die Frage: „Wie hindern wir die Herrschaft des Geldes daran, die Menschheit auszulöschen?“

Ganz bei Habermas

Dass es auf diese Frage aktuell keine Antwort gibt, ist in seinen Augen allerdings ein entscheidender Vorteil, auch wenn das Menschen, die dialektisch weniger geschult sind, frustrierend erscheinen mag. Holloway wird dabei sogar spitzfindig: Wer Antworten habe, müsse diese denjenigen erklären, die keine Antworten besitzen: „Die Politik der Antworten ist eine hierarchische Politik, eine Politik der Monologe.“ Holloway selbst vertraut, hier ganz bei Habermas, auf den Austausch, den Dialog auf Augenhöhe, basierend auf Ideen und Erfahrungen. Dafür erntet er aus dem Auditorium reichlich Applaus, der innerhalb des skizzierten Widerstandshorizonts aber zumindest widersprüchlich ist.

Dem Film ist dieser Widerspruch schlicht egal. Er konzentriert sich stattdessen auf die vielfältigsten Erfahrungen von Aktivist:innen, die vor laufender Kamera dialogisch entfaltet werden. Am Beginn steht der Hinweis auf die „Politik der Feindschaft“, formuliert von Achille Mbembe, derzufolge die liberalen Demokratien Feinde benötigen, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Diese Feinde oder Feindbilder können durchaus fiktiv und konstruiert sein, müssen aber identifizierbar bleiben, um demaskiert und ans Licht geholt zu werden.

Aktivist:innen kommen zu Wort

Der betont kunstlose, von diesen beiden Narrativen gerahmte Film nimmt sich viel Zeit, um die Protagonist:innen in ihrem Lebensumfeld vorzustellen. Etwa die junge Mutter Julia aus Bonn, die davon erzählt, wie wichtig die Organisiertheit in einer Gewerkschaft sein kann. Oder den Franzosen Loic, der in einer Landkommune lebt und Gemüse anbaut. Dort, wo eine Atommülldeponie geplant ist, könnte der Besitz von Land noch bedeutsam werden, zumal der Boden von Steinen übersät ist, die für künftige Kämpfe bereitliegen. Erst hier wird klar, dass sich die Wege von Julia und Loic gekreuzt haben könnten, Anfang Juli 2017 in Hamburg, als beide gegen den G20-Gipfel demonstrierten und dabei mit rabiater Polizeigewalt konfrontiert wurden.

Das Recht der Versammlungsfreiheit traf dabei auf ein forciert „feindliches“ Zusammenspiel von Exekutive und Judikative, das auf exemplarische Bestrafung und Einschüchterung abzielte. Es folgten Hausdurchsuchungen bei Eltern und „Benachrichtigungen“ der Arbeitgeber durch die Ermittlungsbehörden. Fungierte der Hamburger G20-Gipfel also als eine Machtdemonstration der Herrschenden gegenüber den als „Feinden“ identifizierten Demonstranten? Der Film deutet das an, zieht dann aber weiter zu anderen sozialpolitischen Auseinandersetzungen und erzählt von anderen Beispielen von Polizeigewalt, Korpsgeist, strategisch zurückgehaltenen Videoaufnahmen von Polizeigewalt, von hintergründigen Strippenziehern des globalen Kapitalismus wie Black Rock oder gewerkschaftlichen Versuchen bei Amazon und Lohndumping beim Zustelldienst Gorillas.

Dokumentieren & sammeln

Dabei wird nichts aus dem Off kommentiert; hier sprechen allein die Aktivist:innen und migrantischen Lohnabhängigen, denen eine Bühne geboten wird. Manches klingt in der Polyphonie unterschiedlichster Stimmen naiv, manches pathetisch, anderes wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Dann aber auch wieder unerhört reflektiert, wenn beispielsweise im Rahmen einer Veranstaltung von „Women in Exile and Friends“ davon gesprochen wird, dass für solidarische „Friends“ eine Vielzahl produktiver Rollen verfügbar seien, nur eben nicht als „Deutsche“ und „Weiße“.

Die Regisseure werten und gewichten nicht; sie dokumentieren und sammeln Erfahrungen in WG-Küchen, auf Kundgebungen, in Flüchtlingsunterkünften, bei Tatort-Begehungen und in Interviews mit Anwälten. Namen wie die des 2005 im Gefängnis in Dessau gestorbenen Oury Jalloh oder des Verdi-Gewerkschafters Orhan Akman wird mancher googeln müssen. Aber das ist okay. In einer Zeit der gleichermaßen hysterischen wie intellektuell unterbelichteten Migranten-Hatz, in der das Grundrecht auf Asyl einmal mehr zur Disposition steht, statt dass über die Unterbesetzung von Ausländerbehörden nachgedacht würde, wirkt „Wir sind so frei“ wie eine Flaschenpost aus einer Realität, in der konventionelle Medien aus der Zeit gefallen erscheinen. Doch der Film belegt nachdrücklich, dass all diese Kämpfe stattfinden und allemal wert sind, dokumentiert zu werden. Nicht als Antwort, sondern als Pool von Erfahrungen, die eventuell irgendwann zur Selbstermächtigung taugen.

Erschienen auf filmdienst.deWir sind so freiVon: Ulrich Kriest (5.9.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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