- RegieMarcus Vetter
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2023
- Dauer93 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- IMDb Rating8.5/10 (24) Stimmen
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Filmkritik
Historische Aufnahmen zeigen den jungen Benjamin Ferencz als Ankläger der Nürnberger Prozesse. Mit ruhiger Stimme stellt er promovierten SS-Generälen Fragen nach den Ursachen des Angriffskrieges, an dem sie beteiligt waren. Zu hören bekommt er das immer gleiche Argument: Sie hätten angreifen müssen, um sich zu verteidigen. Zuletzt griff Putin das Narrativ auf und begründete seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit einer Bedrohung durch ukrainische „Faschisten“ und die Nato. Dass Herrmann Göring während der Nürnberger Prozesse bereits offen damit prahlte, man müsse der Bevölkerung nur erzählen, sie wäre von außen bedroht, um ihre Zustimmung zum Krieg zu erhalten, als einem Trick, der immer funktioniere, lässt an der Lernfähigkeit der Menschheit zweifeln.
Das größte Kriegsverbrechen ist der Krieg
Das aber gilt nicht für den im Jahr 2020 im Alter von 103 Jahren verstorbenen Ben Ferencz. In den Jahrzehnten seines idealistischen Wirkens kam er zu der Einsicht: „Das größte Kriegsverbrechen ist der Krieg selbst.“ Denn jeder Waffengang führt dazu, dass die Beteiligten Verbrechen begehen. Bis zuletzt glaubte er an den Sinn seines Engagements und beteiligte sich auch an dem Dokumentarfilm „War and Justice“ von Marcus Vetter und Michele Gentile.
Im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 24 Vertreter des NS-Regimes wie Göring oder Rudolf Hess als Kriegsverbrecher angeklagt und verurteilt. Der Saal hat auch heute noch seine Strahlkraft nicht verloren. Der Argentinier Luis Moreno Ocampo hielt hier zum 20. Jubiläum des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) eine Grundsatzrede über die Bedeutung der Verfolgung von Kriegsverbrechen. Moreno Ocampo hatte in seinem Heimatland als Staatsanwalt die Militärjunta vor Gericht gestellt und war von 2003 bis 2012 der erste Chefankläger des „International Criminal Court“ (ICC) in Den Haag. Der Strafgerichtshof war im Juli 1998 von 120 Staaten gegründet worden, um als ständige Einrichtung Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Kriegsverbrechen und Angriffskriege zu bestrafen und am besten auch zu verhindern.
Wie wirksam das Gericht in Den Haag darin ist, Verantwortliche von Angriffskriegen wie etwa dem in der Ukraine zur Rechenschaft zu ziehen, versuchen Vetter und Gentile in vielen Rückblenden und Zeitsprüngen entlang von konkreten Fällen zu ergründen. Denn die Statuten des ICC sehen vor, dass nur Angehörige der Unterzeichnerstaaten vor Gericht gestellt werden können. Großmächte wie Russland, USA und China gehören nicht dazu. Eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2017 schreibt überdies vor, dass die Zustimmung beider Konfliktparteien für die Anklage eingeholt werden muss; eine absurde Regelung, denn welches Täterland würde freiwillig seiner eigenen juristischen Verfolgung zustimmen? Es ist kein Wunder, dass dem ICC in vielen Fällen die Hände gebunden sind.
Kritik an Vorgehen des Gerichtes
„War and Justice“ ist eine um den aktuellen Ukraine-Krieg und den Überfall der Hamas auf Israel aktualisierte Version des Films „The Court“ aus dem Jahr 2013. Anhand des Ukraine-Krieges wird das Dilemma des ICC herausgearbeitet, der inzwischen gegen Putin Haftbefehl erlassen hat, es aber in absehbarer Zeit wohl nicht schaffen wird, ihn vor Gericht zu stellen. Andererseits streifen mitunter äußerst brutale Nachrichtenbilder zwei Jahrzehnte nicht endender globaler Menschenrechtsverletzungen und würdigen auch kurz die Beweisquellen des Wikileaks-Gründers Julien Assange.
Den Vorwürfen der Untätigkeit, mit denen ein Taxifahrer Moreno Ocampo in Den Haag konfrontiert, stellt der Film Erfolge entgegen, etwa das Urteil gegen den kongolesischen Warlord Thomas Lubanga Dyilo, der als ehemaliger Chef der „Union des Patriotes Congolais (UPC)“ zahllose Kindersoldaten rekrutierte und in den Tod schickte. Das ändert nichts daran, dass sich das Gericht mit der Kritik auseinandersetzen muss, nur gegen „kleine Länder“ vorzugehen, während etwa die Verbrechen US-amerikanischer Soldaten im Irak-Krieg nicht geahndet werden können, weil die USA nicht zu den Unterzeichnerstaaten gehört.
Moreno Ocampo steht im Zentrum von „War and Justice“. Er sinniert über Grundsatzfragen, schweift in die Vergangenheit ab und absolviert Treffen mit Prominenten wie etwa der als UN-Sonderbotschafterin tätigen Schauspielerin Angelina Jolie. Ihm gehört auch die wiederkehrende Voice-Over-Stimme, die entsetzt darüber berichtet, dass sich friedliche Staaten wie Deutschland durch den Ukraine-Krieg wieder zum Aufrüsten gezwungen sehen. Zweimal gibt Moreno Ocampo zu bedenken, dass dabei die Wirtschaftskraft der Waffenindustrie eine Rolle spielte. Zum Schluss kommt er zu dem Ergebnis, dass die Statuten zur Ahndung von Angriffskriegen dringend geändert werden müssen.
Furchtbares Zeugnis der Menschheit
Der derzeitige Chefankläger Karim Khan kommt weniger zu Wort, dafür in einer Bestimmtheit, reflexiven Tiefe und Eloquenz, dass man ihn gerne öfter vor der Kamera gesehen hätte. „Wir sollten nicht davon ausgehen“, so Khan, „dass Frieden der Standardzustand der Geschichte ist. Das ist er nicht. Dieses Gericht, in dem wir hier sitzen, ist ein furchtbares Zeugnis der Menschheit.“ „War and Justice“ ist ein hochaktueller Dokumentarfilm von großer Informationskraft, der die juristischen Schwierigkeiten, einen Angriffskrieg vor Gericht zu bringen, in allen Details akribisch ausleuchtet.