- RegieKarin Kaper
- ProduktionsländerDeutschland
- Dauer101 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Leider gibt es keine Kinos.
Filmkritik
In seiner Matinee-Reihe „Gregor Gysi trifft...“ am Deutschen Theater in Berlin hatte der umtriebige Politiker auch einmal den Schriftsteller Walter Kaufmann eingeladen. „Sie haben ein Leben geführt“, stellte Gysi den über Neunzigjährigen vor, „das heute kaum noch vorstellbar ist. Sie haben Erfahrungen gemacht, wie es sie heute kaum noch gibt.“
Eine Jahrhundert-Figur
Das ist durchaus stimmig, und man muss Kaufmann wohl eine Jahrhundert-Figur nennen: Geboren 1924 in Berlin, wurde der uneheliche Sohn einer bitterarmen polnischen Jüdin im Alter von zwei Jahren von einem jüdischen Anwalt und seiner Frau adoptiert. Er wuchs in Duisburg behütet auf, gelangte 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien, wurde 1940 aber als „feindlicher Ausländer“ nach Australien transportiert, während seine Adoptiveltern in das Ghetto Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet wurden.
In der Fremde verdingte sich Kaufmann als Wäschefahrer, Hafenarbeiter und Seemann und etablierte sich schließlich als Schriftsteller. Mitte der 1950er-Jahre kehrte er nach Duisburg zurück, wo er den dicken Teppich des Vergessens nicht ertrug, der über die Verbrechen der NS-Zeit gebreitet wurde. Er siedelte in die DDR über, behielt aber seinen australischen Pass und konnte in den folgenden Jahrzehnten als Journalist und Autor ausgedehnte Reisen in die USA, nach Kuba, Israel und in manch andere Weltgegend unternehmen.
In zahlreichen Artikeln und Büchern skizzierte er politische Ereignisse und erzählte von den Schönheiten und Schrecknissen des Universums. Als nach 1989 seine DDR-Verlage zugrunde gingen, suchte er sich neue – und blieb seinen linken Idealen treu. Er starb im April 2021.
Und Walter Kaufmann schrieb
Für den Film, der diese Biografie in zwei Kinostunden bündelt, erinnert sich Kaufmann vorwiegend aus dem Off; dazu montieren die Regisseure Karin Kaper und Dirk Szuszies Fotos, dokumentarische Archivszenen, aber auch neu gedrehte Sequenzen aus jenen Städten und Landschaften, in denen Kaufmann einst lebte. Die neuen Bilder entstanden dank einer freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Kameraleuten aus mehreren Ländern; weil das Reisen unter Corona-Bedingungen nicht mehr möglich war, wurden die Motivwünsche gleichsam auf Zuruf mitgeteilt. Daraus entstand eine kurzweilige, materialintensive und immer wieder emotional grundierte Weltreise, die politische Erfahrungen aus Vergangenheit und Gegenwart zueinander in Beziehung setzt.
Auf der Tonebene sind den Bildern Briefzitate der jüdischen Adoptiveltern und von Walter Kaufmann unterlegt. Dazu kommen zahlreiche Texte aus den Büchern des Autors, die jedes Mal mit dem Eröffnungssatz „Und Walter Kaufmann schrieb...“ eingeleitet werden. Diese Mittel nutzt sich allerdings schnell ab; zudem ist in ihm ein gewisser Anflug von Didaktik nicht zu übersehen, ebenso wie im Titel. „Welch ein Leben!“, noch dazu mit einem Ausrufezeichen versehen, wirkt wie mit großen glänzenden Augen gemalt.
Zeitreise durchs 20. Jahrhundert
So ist es aber auch. Karin Kaper und Dirk Szuszies lassen keinen Zweifel an ihrer unumschränkten Empathie für den Protagonisten. Ihr Film ist eine von Ehrfurcht getragene Liebeserklärung. Und eine Zeitreise durchs 20. Jahrhundert mit all seinen Verwerfungen, Verwicklungen und Verbrechen. Das thematische Panorama reicht von der Pogromnacht 1938 bis zur Ermordung Martin Luther Kings, von der gemeinsamen deutschen Olympiamannschaft 1956 in Melbourne bis zu den Hoffnungen, die Kaufmann mit der Politik von Gorbatschow unter den Stichwörtern Perestroika und Glasnost verband. Auch private Geschichten werden, bei aller Dezenz, nicht ausgespart, so Kaufmanns Liebe zu seinen drei Ehefrauen und den beiden Töchtern Rebekka und Deborah, die mit Bedacht jüdische Namen erhielten.
Vielleicht eilt der Film insgesamt ein bisschen zu sehr im Sauseschritt durch neunzig Lebensjahre und gönnt sich zu wenig Raum für Muße und Besinnung. Andererseits galt es an möglichst vielen Beispielen nachzuweisen, dass sich Walter Kaufmann „seit seiner Jugend an die Seite der Verfolgten und Entrechteten dieser Erde geschlagen hat“ und dass „seine Abenteuerlust Ausdruck seines wachen Geistes ist, der die Welt mit eigenen Augen erfassen will“.
Es ist die Saga eines vom Schicksal Getriebenen, der sich diesem Schicksal jedoch nie auslieferte, sondern es in die eigenen Hände nahm. Das ist kein schlechtes Beispiel für ein jüngeres Publikum.