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Filmkritik
Schönheit ist relativ. Was die Spinne in Alis „Verkaufs-Hinterzimmer für Raritäten“ nun genau von anderen Handteller-großen Arachniden unterscheidet, wissen nur eingefleischte Liebhaber. Für Kaleb (Théo Christine) ist die aschgrauen Laufspinne ein Wunder, voller eleganter Kraft und Aggressivität. Für 100 Euro wechselt sie zusammen mit einem Paar Ohrringe den Besitzer. Ein Schnäppchen, denn der Schmuck ist echt und die Spinne eine Rarität, von der nicht einmal der zwielichtige Händler weiß, woher sie stammt.
Ein verschmitztes Lächeln
Das macht auch nichts, denn Kaleb kennt sich aus. Er ist besessen von allem, was auf mehr als zwei Beinen kreucht und fleucht. Sehr zum Leidwesen seiner Schwester Manon (Lisa Nyarko), mit der Kaleb eine Wohnung und viele Terrarien teilt. In den Banlieues von Noisy-le-Grand bei Paris lernt man früh, auf eigenen Füßen zu stehen. Kaleb dealt mit geklauten Sneakers. Im Viertel genießt er einen gewissen Ruf. Vielleicht auch, weil er zwar gerne poltert und den Boss spielt, aber immer mit diesem verschmitzten Lächeln auf den Lippen, mit dem er seine Aggressivität abzumildern versteht. Seine beiden Kumpel Mathys (Jérôme Niel) und Jordy (Finnegan Oldfield) helfen ab und zu mal als Kuriere aus, aber ansonsten wollen sie vor allem eines: keine Konflikte. Was schwer ist in einer Nachbarschaft, in die sich selbst die Polizei nur mit Verstärkung traut.
„Spiders“ könnte einer dieser packenden Sozialstudien im Stil der Arbeiten von von Mathieu Kassovitz oder Ladj Ly sein, in denen die gesellschaftlich ausgeschlossenen Jugendlichen in den Banlieues mit harten Bandagen um Akzeptanz kämpfen. Regisseur Sébastien Vaniček ist selbst in dem Département Seine-Saint-Denis aufgewachsen, nur einen Katzensprung von dort entfernt, wo „Spiders“ spielt. Er weiß genau, wie es sich in den labyrinthischen Fluren und den kaputten Fahrstühlen der Wohnblöcke anfühlt: nämlich nicht ganz so schlimm, wie es in den Nachrichten oft klingt. Hier lebt eine verschworene Gemeinschaft, die sich gegenseitig hilft und die miteinander auskommt, anstatt sich zwischen brennenden Fässern die Schädel einzuschlagen.
Man schließt die Truppe um Kaleb oder auch die ganze Etage im Block schnell ins Herz, auch weil alle am liebsten gleichzeitig quatschen und sich doch immer gut verstehen. All das ist wichtig für die dramatischen Begebenheiten, denn es hilft dabei, um all die Bewohner Angst zu haben.
Denn der Debütfilm von Vaniček ist handfestes Genrekino; in seinem Creature-Horrorthriller geht es darum, dass Kalebs neue Spinne, so schön sie auch sein mag, tödlich giftig ist und mutiert, wenn sie sich bedroht fühlt. Und das tut sie alsbald.
Die Klaviatur des Schreckens
Der 35-jährige Franzose Vaniček beherrscht die Klaviatur der Spannungserzeugung extrem souverän. Kaum ist der garstige Prolog vorbei, in dem vermeintlich arabische Wilddiebe unter großen Verlusten diese Spinnen fangen, und auch der schmissige Vorspann über die Leinwand geblitzt, da mischt sich ein Gefühl der Bedrohung in den Alltag in der Banlieue. Denn die Spinne, der Kaleb behutsam ein neues Zuhause im Schuhkarton gegönnt hat, ist gefährlich schlau und flieht blitzschnell. Verstecke findet sie in den feuchtwarmen Lüftungsschächten und Kellergewölben genug, und es ist offensichtlich ein Weibchen, das viel Nachwuchs im Hinterleib mit sich trägt.
Die ersten Opfer sterben unter heftigen Schmerzen und so laut, dass die Polizei schon bald eine Quarantäne über den ganzen Wohnblock verhängt. Was verhängnisvoll ist, denn nun muss sich die Gemeinschaft gegen einen fiesen Feind wehren, der keine Gefangenen macht.
Viel Geld hatte Vaniček nicht zu Verfügung, was die Spezialeffekte eher ins Halbdunkel verbannt. Das ist nicht weiter schlimm, da lebende Spinnen als Triggerreiz sehr effektiv Unbehagen provozieren. Dazu kommt eine an den Nerven zerrende Elektromusik sowie Darsteller, die sich glaubwürdig vor Spinnen ekeln. Das gibt es im Überfluss, weil der Haupt- und Nebendarsteller nicht nur den hektisch-fragmentarischen Pariser Vorstadtsprech beherrschen, sondern glaubwürdig-verzweifelt gegen die wachsende Übermacht der Spinnen ankämpfen. Das geschieht mal humorvoll, wenn sich die Spinnentiere in der Dusche verstecken, zumeist aber in einer Mischung aus Spannung und Ekel, wenn Menschen leise durch netzverhangene Kellergänge flüchten.
Mit einem Paukenschlag
Die Drehbuchautoren wissen zudem genau, wen aus der Truppe sie in die Spinnennetze laufen lassen müssen, um neben allem Spinnen-Thrill auch die zwischenmenschliche Dramatik zu forcieren. Zudem leisten Nassim Gordji-Tehrani und Thomas Fernandez eine außergewöhnliche Montagearbeit, die in all dem menschlichen und tierischen Gewimmel immer den Überblick bewahrt. Das ist nicht unwichtig, denn ein Hauptdarsteller des Films ist der Wohnblock selbst, in dem sich die Tour de Force ums Überleben ereignet. Wie zwei monumentale Gouda-Laibe stehen sich die zwei kreisrunden Wohntürme in dem brutalistischen 1970er-Jahre Komplex Arènes Picasso in der Stadt Noisy-Le-Grand gegenüber, die über 500 Wohnungen und Geschäfte und einen mit Steinen, Bäumen und Brunnen versehenen Innenhof beherbergen. Es ist ein genialer Coup, den Spinnenhorror hier spielen zu lassen. Wo es in „Arachnophobia“ (1990) noch die grüne Hölle des Dschungels war, ist es in „Spiders“ die graue Hölle der Beton-Architekten. Beides sind lebensfeindliche, wohlig gruselige Locations. „Spiders“ katapultiert das Subgenre des Creature-Horrors mit einem Paukenschlag ins 21. Jahrtausend.