- RegieMaria Fredriksson
- Produktionsjahr2023
- Dauer108 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 6
- TMDb Rating7/10 (6) Stimmen
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Filmkritik
Der portugiesische Autorenfilmer Miguel Gomes schreibt über die Dreharbeiten zu seinem Sechs-Stunden-Epos „1001 Nacht“ (2016), als er gerade mitten in einer Sinn- und Schaffenskrise steckte: „Ich empfehle jedem Regisseur, der in Schwierigkeiten steckt, einen Wal bauen zu lassen. Damit lässt sich ein wenig Zeit gewinnen“. Die auf Biblisches verweisende Attrappe wird dann zwar allen am Set um die Ohren fliegen, aber es gibt dadurch tatsächlich wieder ein paar rätselhafte Filmminuten mehr.
Ein künstlicher Wal bringt auch jene Ereignisse ins Rollen, denen die schwedische Regisseurin Maria Fredriksson in ihrem Langfilmdebüt „Das Gullspång Geheimnis“ mit dokumentarischen Mitteln nachforscht. Und auch bei ihr verschränken sich christlicher Mythos, europäische Geschichte und eine Sinnsuche in der Gegenwart.
Zwei tiefgläubige Schwestern, May und Kari, beide über sechzig, setzen sich in einem südschwedischen Freizeitpark in ein Gefährt in Gestalt eines Wals. Sie sausen darin eine Wasserrutsche hinunter. May bricht sich das Steißbein. Weil sie wochenlang nicht sitzen kann und ihre Heimreise nach Nordnorwegen verschieben muss, bleibt May bei Kari in Südschweden.
Fredriksson hat sich diese Anekdote nicht ausgedacht und den Wal nicht bauen müssen; die Ereignisse kamen vielmehr auf sie zu. Der Film beginnt mit einer Mailbox-Nachricht der beiden Schwestern: Ob sie die Filmemacherin Maria Fredriksson sei? Die Anruferinnen hätten ein Wunder erlebt. Die Regisseurin, die nach eigener Aussage beim öffentlich-rechtlichen Fernsehsender SVT als „Alte-Tanten-Regisseurin“ gilt, weil sie schon häufiger ältere Frauen aus deren Leben hat berichten lassen, macht sich auf den Weg.
Eine Art Epiphanie
Das „Wunder“ geht so: Um sich die lange Zeit der walbedingten Steißbein-Heilung zu verkürzen, begibt sich May auf Immobiliensuche. Bei einer Besichtigung erleben die Schwestern eine Epiphanie, die in einem Stillleben kulminiert, das May lange schon gesucht haben will. Spontan kauft sie die Wohnung. Beide sind sicher: „Etwas wird geschehen, nur was?“ Bei der Vertragsunterzeichnung stellt sich heraus: Die bisherige Eigentümerin sieht der älteren Schwester extrem ähnlich. Sie hat auch am selben Tag Geburtstag und wurde bis zu ihrem 20. Lebensjahr wie diese genannt: Lita. Allerdings hat Lita sich vor drei Jahrzehnten das Leben genommen. Wie kann das sein? Ein DNA-Test bringt Gewissheit: Olaug, so der Name der Frau, ist eine Halbschwester von May und Kari.
Schon bei der Rekonstruktion der Stillleben-Epiphanie macht die Regisseurin deutlich, dass sie als Gestalterin und womöglich sogar als Manipulatorin in das Geschehen eingreift. Ihre Hand wedelt unscharf im Vordergrund, sie gibt den Schwestern Anweisungen, um den Moment der Bild-Entdeckung nachzustellen. Sie mahnt, sie würden zu sehr „spielen“, sie sollten bitte „technischer“ agieren.
Doch im Unterschied zu anderen Dokumentarfilmen, die mit Reenactments operieren, schafft es „Das Gullspång Geheimnis“, das Nachgestellte als eigene Qualität zu interpretieren. So taucht ausgerechnet die am künstlichsten wirkende Einstellung später wieder auf, als der Film das „Wunder“ noch einmal aufrollt und eine weitere überraschende Wendung nimmt. Kurze, prägnante Ausschnitte aus alten Wochenschauen verweisen auf die Zwillings-Experimente der Nationalsozialisten. Zwischen 1940 und 1945 war Norwegen von der Wehrmacht besetzt; Olaug/Lita wurde 1941 geboren. Ist sie ein Zwilling, der weggegeben wurde?
Detektivarbeit und emotionale Intrige
Die freudig-neugierige Atmosphäre kippt in der Mitte des Films. Während eines extrem langsamen Zooms auf ein Jugendbildnis von Lita, das an das Porträt der an einem See ermordeten Laura Palmer aus „Twin Peaks“ erinnert, schütten die Frauen auf der Tonspur Groll und Misstrauen auf Fredrikssons Mailbox aus. Die Regisseurin, die im Film selbst nur hin und wieder als Fragestellerin zu hören ist und nur einmal ins Bild kommt, sieht sich in eine „detektivische Arbeit“ und in eine „emotionale Intrige“ verstrickt: hier die tiefreligiöse, bäuerliche Familie, dort die atheistische, auf ihre Intelligenz, ihre Militärausbildung und ihren guten Geschmack sehr stolze Städterin. Vielleicht komme es auf die Blutsverwandtschaft gar nicht so sehr an, sagt Olaug bei einer Aussprache in eisiger Atmosphäre. Da hat ihr Klassismus ohnehin schon viele Sympathien verspielt. „Ich entscheide, mit wem ich verwandt bin“, sagt sie später.
Einmal wird es Fredriksson selbst zu viel. Sie müsse unterbrechen, denn sie sei wütend: „Lügt hier jemand? Was ist hier los?“ Sie spricht damit dem Publikum aus der Seele. Doch wie die Filmemacherin kann man sich auf keine Seite schlagen. Die immer wieder neu aufbrechende Unzuverlässigkeit aller Erzählinstanzen hält die Spannung bis zu einer letzten, absurden Pointe im Abspann.
Die Montage von Orvar Anklew und Mark Bukdahl variiert und spiegelt in Zeitlupen, Wiederholungen und Vergrößerungen private Super-8- und VHS-Familienfilmausschnitte. Wie bedrängende, schwer zu fassende Traumfragmente kontrastieren sie geschickt die tableauartigen, subtil wackelnden Interieurs von harmlosen Wohnzimmerecken, Küchentischen und Fjord-Landschaftsbildern in der von der Kamerafrau Pia Lehto gefilmten Gegenwart.
Mit dem Seelenfrieden ist es vorbei
Die immer wieder mit Streicher- und Kirchenglocken-Schauerlichkeiten arbeitende Musik von Jonas Colstrup ironisiert dabei das Bedeutsamkeit beschwörende Raunen des Mystery-Genres. Nicht zuletzt darf man darüber staunen, dass die an den Grundfesten des Selbst rüttelnde Frage nach Herkunft und Identität nicht, wie sonst, nur der Jugend vorbehalten ist.
Der Glaube, sei es an göttliche Zeichen, den eigenen Status oder ein DNA-Testergebnis, vermag zwar zu helfen und zu verbinden, doch er schließt hier auch aus. Wenn die Toten nicht (mehr) ruhen, ist es auch mit dem Seelenfrieden der Lebenden vorerst vorbei. Für die Protagonistinnen sei der Wunsch, ihre eigenen Wahrheiten zu definieren, „wichtiger, als zu wissen, was wirklich wahr ist“, meint die Regisseurin. Das eigentliche Ereignis des Films ist diese unauflösliche Suchbewegung, ausgelöst durch ein unheimlich freudiges Wiedersehen, hin zu einem todtraurigen Familiengeheimnis.