Fünf junge Frauen erzählen ihre Geschichte. Sie alle haben vor mehreren Jahren an demselben Casting teilgenommen und wurden mit systematischen Übergriffen, zum Teil sexueller und gewaltsamer Natur konfrontiert. Gemeinsam erarbeiten sie, was damals geschah und teilen mutig ihre Gedanken und Emotionen. Durch die aktuelle “MeToo-Bewegung”, die 2017 ins Rollen gebracht wurde, ist der sexuelle Missbrauch in der Filmbranche – aber auch außerhalb – ein brandaktuelles Thema. THE CASE YOU – EIN FALL VON VIELEN gibt Einblicke über den Ablauf solcher Taten und was es für das Leben und die Arbeit der Betroffenen bedeutet.
- RegieAlison Kuhn
- Dauer80 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Am Anfang stand eine seriös wirkende Casting-Einladung, das Drehbuch war beigefügt. Für die jungen Schauspielerinnen bot sich 2015 die Chance auf eine kleine oder größere Rolle. Mehr als 300 Mädchen und junge Frauen stellten sich vor; viele von ihnen waren noch keine 18 Jahre alt, manche unter 16. Die meisten waren naiv; der Traum von der Filmkarriere wischte alle Bedenken weg. Was dann allerdings auf die Frauen zukam, war ebenso überraschend wie schrecklich. Im Rahmen des Vorsprechens mussten sie sich entkleiden oder wurden dazu genötigt. Männer und Frauen aus dem Team begrapschten sie am ganzen Körper. Sie wurden angebrüllt, bedroht und geschlagen, alles ohne Vorbereitung oder Begründung. Viele weinten, doch niemand kam ihnen zu Hilfe. Ihre offenkundige Hilflosigkeit war Teil des Kalküls.
Unter den Folgen leiden sie noch heute, doch inzwischen wollen sie reden. Dabei geht es nicht um Diffamierung oder eine persönliche Abrechnung mit den Täterinnen und Tätern, sondern um individuelle Auseinandersetzungen mit den damaligen Geschehnissen.
Was ist eigentlich geschehen?
„The Case You“ beginnt locker: Die Frauen stellen sich vor und erzählen von ihrem Wunsch, Schauspielerin zu werden. Eine wollte die Ausbildung machen, um von der Rolle des Schafs im Krippenspiel wegzukommen. Als Absolventin der Schauspielschule würde sie doch sicherlich die Maria spielen dürfen! Eine spricht von Identitätsverlust aufgrund der Vorfälle beim Casting, andere sind wütend. Aber was ist damals eigentlich geschehen? Der Übergang zur Rekonstruktion der Ereignisse findet über die Rekonstruktion des Raumes statt. Hier stand ein Stuhl, dort das Mikro.
Jede von ihnen hatte einen Plan für das Casting: in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen, vielleicht die Schüchterne zu spielen oder die Freche. Ein paar Texte hatten sie dafür in petto und natürlich Szenen aus dem Drehbuch gelernt. Doch ihre Vorbereitungen wurden unterlaufen, denn sie durften den Ablauf nicht selbst bestimmen, sondern es wurde etwas mit ihnen gemacht. Sie wurden unvermittelt angeschrien, am ganzen Körper angefasst, auch im Intimbereich, manche sogar geschlagen. Von Männern und Frauen, ohne Ankündigung. Einige wurden genötigt, sich zu entblößen.
Die ständigen Grenzüberschreitungen machten sie immer hilfloser. Die große Frage: Warum haben sie das alles mitgemacht? Die Antwort: Sie hatten kaum Zeit zu reagieren, wollten professionell sein, der Kunst nicht im Wege stehen – und sie wollten eine Rolle. Dass ihre Naivität und ihre schauspielerischen Ambitionen ausgenutzt wurden, dämmerte ihnen zu spät. Mit der Scham kamen Reue und Zorn.
Manche weinen, während sie erzählen; die Anwesenheit der anderen hilft, aber auch die kathartische Wirkung des Sprechens. Immer entschlossener wirken die Frauen: „Das nächste Mal hau ich dir in die Fresse“, sagt eine in die Kamera – aufgebracht, aber immer noch beherrscht.
Fünf Frauen erinnern sich
Nur fünf Tage dauerten die Dreharbeiten im Theatersaal der Filmuniversität Babelsberg. Die Regisseurin Alison Kuhn arbeitete viel mit einer beweglichen Handkamera, die sehr dicht an den Akteurinnen bleibt. Die Bilder wirken oft leicht melancholisch im Wechsel zwischen Schärfen und Unschärfen, was durch die kahlen schwarzen Wände und durch einen Soundtrack verstärkt wird, der mehr Geräuschkulisse als Musik ist. Kuhn, die auch eine der Frauen bei diesem Casting war, verzichtet auf eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse in Form nachgestellter Szenen oder Rollenspiele. Sie lässt stattdessen ihre fünf Kolleginnen sprechen, mischt sich nur selten ein, sondern gibt ihnen viel Zeit und Raum. Das schließt auch Momente des Schweigens mit ein. Aus dem improvisierten Treffen in dem leeren Theatersaal entwickelt sich eine eigene dokumentarische Form, eine Mischung aus Workshop und Kammerspiel, die sich in eine Art gruppentherapeutische Erfahrung verwandelt.
Nach und nach kommen die Frauen aus der Reserve, sie öffnen sich Stück für Stück, hier, in diesem geschützten Raum, vereint durch das gemeinsame Erleben. Sie klagen niemanden direkt an; Kuhn legt offenbar großen Wert darauf, dass – anders als bei „MeToo“ – keine Namen genannt werden und dass keine Rückschlüsse auf den geplanten Film und dessen Produktion möglich sind. Auch die Namen der fünf Akteurinnen scheinen unwichtig zu sein – wie schon der Titel „The Case You“ vermuten lässt. Auch hier wird die „MeToo“-Bewegung weitergedacht.
Die Ambivalenz hinter dem Missbrauch
Überdeutlich tritt hingegen die Ambivalenz hervor, mit der sich die Schauspielerinnen auseinandersetzen müssen, geleitet vom Wunsch nach Erfolg und der Aufrechterhaltung ihrer Würde, Identität und Freiheit. Sie waren naiv und wurden ausgenutzt, benutzt, im Namen der Kunst. Umso perfider das Spiel der damaligen Filmproduktion, aus dem Casting-Material einen Dokumentarfilm zu erstellen, dessen Aufführung gerade noch verhindert werden konnte. Wenn es eine unverhoffte Wendung in dem Film gibt, dann ist es diese. Ein juristischer Streit gegen die Produktionsfirma ist wohl noch anhängig; dabei geht es um die Verletzung von Persönlichkeitsrechten.
Für die Frauen spielt es kaum eine Rolle, welcher Art die erlittenen Verletzungen sind und ob Kunst tatsächlich Grenzüberschreitungen rechtfertigt. Letztlich geht es ihnen um Selbstbestimmung. Darum, dass sie sich für ihre Arbeit ein professionelles Umfeld wünschen, in dem sie gute Arbeit leisten können. Es wäre zu hoffen, dass das in Zukunft selbstverständlich ist. „The Case You“ könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten.