Vorstellungen
Filmkritik
Ein beschwingter Walzer aus einem alten Disney-Weihnachtsmusical liegt über dem Vorspann. Doch kaum ist die Musik verklungen, ist es mit dem Zaube vorbei, auch mit der schönen Ruhe und Besinnlichkeit. Es ist Heiligabend in Los Angeles, aber es weihnachtet nicht in Sean Bakers „Tangerine L.A.“. Nach einem Knastaufenthalt ist die transsexuelle Prostituierte Sin-Dee Rella „back in the hood“. Nachdem sie mit einem bezaubernden „Merry Christmas, bitch!“ ihrer besten Freundin Alexandra in einem schrammeligen Café einen knallbunt glasierten Donut spendiert hat, erfährt sie, dass ihr Freund und Zuhälter Chester sie während ihrer Abwesenheit betrogen hat: mit einer „echten“ Frau („a white fish ...with vagina and everything“). Ihr Versprechen, daraus kein Drama zu machen, ist schnell über den Haufen geworfen. Denn kaum hat Sin-Dee tief Luft geholt, beginnt eine hochbeschleunigte Jagd auf den Straßen um den Santa Monica Boulevard, die von Sin-Dees anhaltend hyperaktivem Gequassel begleitet wird. Der Plot ist weniger Substanz als Rahmen für eine von Beethoven und Dubstep untermalte Dauerbewegung, die an Tempo, Überhitzung und Hysterie kaum zu überbieten ist und zwei konträre Register – nämlich Künstlichkeit und Milieurealismus – auf ungewöhnliche Weise miteinander versöhnt. Während sich Sin-Dee, zunächst noch mit Alexandra im Schlepptau, auf die Suche nach der „weißen Frau“ macht, um sie Chester in einem Donut-Laden buchstäblich vor die Füße zu werfen, fängt die Kamera Szenen des urbanen Lebens fernab von Hollywood ein: finanzielle Transaktionen auf dem Straßenstrich, Begegnungen mit der Polizei, ein provisorisches Bordell in einen Motel, das Leben einer armenischen Einwandererfamilie etc. Allein die Schauplätze, an denen Sin-Dee auf ihrem Rachefeldzug (zu Fuß, mit dem Bus, mit der U-Bahn – und das in der Autostadt L.A.!) vorbeizieht – Waschsalons, billige Bars, eine Obdachlosenspeisung auf der Straße, aber auch der Walk of Fame –, verdichten sich zum Porträt einer Stadt (und eines Landes) zwischen Mythos und Realität, Traum und Krise. „Kreditvergabe auch ohne Sicherheiten“, ist einmal auf einer Wand zu lesen. Nach „Starlet“ (fd 41 695), einer schön dahindriftenden Alltagserzählung über eine Pornodarstellerin im San Fernando Valley, zeichnet der in Los Angeles lebende Filmemacher erneut ein so empathisches wie unpoliertes Bild von Sexarbeit. Im Vergleich zu der schwebenden Hangover-Stimmung von „Starlet“ ist „Tangerine L.A.“ jedoch schnell, aufgekratzt und schlagfertig wie eine Screwball-Comedy. Bakers Erfahrungen mit Reality-TV- und Sitcom-Formaten sind deutlich erkennbar. Der Film wurde komplett mit iPhones gedreht, die mit anamorphen Objektiven aufgerüstet wurden. Mit dem typischen Aktion simulierenden Handkameragewackel des sozialrealistischen Arthouse-Kinos haben diese Bilder allerdings wenig gemein: das visuelle Vokabular aus gekippten Perspektiven, Untersichten und angeschnittenen Figuren erinnert vielmehr an die Unmittelbarkeit, aber auch Experimentierfreudigkeit eines Performancevideos. Als Performancekünstlerinnen im wahrsten Sinne lassen sich die beiden furiosen Hauptdarstellerinnen bezeichnen: Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor kommen selbst aus der Transgender-Szene von Los Angeles; ihre Erfahrungen als ehemalige Sexarbeiterinnen sind in das Drehbuch miteingeflossen. Baker geht es bei aller Aufmerksamkeit für die Realität seiner Figuren jedoch weniger um ein (trans)genderpolitisches Programm, sondern um eine Feier weiblicher Freundschaft. Und darum, dem Naturalismus zu trotzen: mit einem glamourösen Look, artifizieller Dramatisierung und einem virtuosen Gebrauch von Sprache.