- RegieVera Brueckner
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2021
- Dauer94 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 6
- IMDb Rating6.6/10 (18) Stimmen
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Filmkritik
„Hey, unter uns, ich hab’ mich da in eine Geschichte verliebt. Es ist die Geschichte von Karl-Heinz und Hedi.“ Mit diesen geflüsterten Sätzen leitet eine Kommentatorin aus dem Off den Dokumentarfilm „Sorry Genosse“ ein. Die Rede ist von einer Liebesgeschichte. Die Stimme mit dem verschwörerischen Gestus gehört der Autorin und Regisseurin Vera Brückner, die selbst in das Geschehen verwickelt ist und immer wieder Hintergrundinformationen liefert. Damit schlägt sie in ihrem ersten Langfilm von Anfang an einen klaren persönlichen Ton an.
Karl-Heinz ist ein westdeutscher Linksaktivist, der sich an der Universität Frankfurt Antworten auf viele drängende Fragen zum Zeitgeschehen erhofft. Hedi ist eine 17-jährige Heranwachsende aus Thüringen, die an der Universität Jena ein Medizinstudium beginnt. Als sich die beiden sich im Sommer 1969 auf einem Familienfest im thüringischen Oberellen zum ersten Mal begegnen, funkt es sofort. Da sie jedoch durch den Eisernen Vorhang getrennt sind, schreiben sie sich zunächst viele lange Briefe. Als sie sich nach zwei Jahren in Leipzig wiedersehen, ist beiden klar, dass sie sich lieben und zusammenbleiben wollen. Es folgen gemeinsame Kurzurlaube in Prag und Bulgarien, die die Sehnsucht nach einem gemeinsamen Leben noch verstärken.
Ein kühner Plan
Karl-Heinz beschließt, in die DDR überzusiedeln, und stellt 1972 bei der Zuzugs- und Rückkehrerstelle in Pankow einen Antrag. Doch der wird gezielt verschleppt, denn die Staatssicherheit möchte den Studenten als Spion anwerben und in West-Berlin platzieren. Dort aber kann Karl-Heinz seine Geliebte nicht sehen. Nach einigem Hin und Her ringen sich die beiden dazu durch, für Hedi eine Republikflucht zu organisieren. Karl-Heinz entwickelt den kühnen Plan, dass Hedi mit einem falschen Pass über Rumänien in den Westen fliegen soll, und gewinnt dafür die alten Schulfreunde Gitti und Lothar. Doch bei der Umsetzung haben sie Pech und machen reihenweise Fehler, bis der Coup am Ende doch noch gelingt.
Vera Brückner wurde 1988 in München geboren, also ein Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer. Ihr war „die Vorstellung eines geteilten Deutschlands fremd“, schreibt sie im Regiekommentar. „Den Begriff der DDR kannte ich viele Jahre gar nicht.“ Dabei hat sie selbst einen Flucht-Hintergrund, war doch ihre Großmutter das der DDR in den Westen geflohen. Als der Vater eines langjährigen Freundes bei einem Familienessen seine Stasi-Akte hervorzog und von einem Filmstoff sprach, hatte sie das Thema für ihr Langfilmdebüt gefunden.
„Sorry Genosse“ kombiniert Statements der Protagonisten und Zeitzeugen, private Fotos, Archivaufnahmen und Fernsehausschnitte, mal in Schwarz-weiß, mal in Farbe, zu einer kurzweiligen Chronik, ist aber kein puristischer Dokumentarfilm klassischer Prägung. Denn die Filmemacherin zeigt Mut zu einer experimentierfreudigen Gestaltung. Brückner, die ihrem Studium des Fotodesigns ein Studium der Dokumentarfilmregie und Fernsehpublizistik folgen ließ, schreibt sich nicht nur selbst in die Filmstruktur ein, sondern integriert auch animierte und nachgestellte Sequenzen.
Augenzwinkernde Berichte
So werden auf stilisierten Landkarten die Reisepläne und -wege des Quartetts für den vermeintlich so gut ausgetüftelten Masterplan illustriert. Und in spielerisch anmutenden szenischen Miniaturen berichten die Fluchthelfer und Hedi jeweils an einem Tisch mit Requisiten augenzwinkernd, welche Hindernisse sie aus dem Weg räumen mussten und welche Tricks sie nutzten, um rumänische Geheimdienstler zu überlisten. Die manchmal recht detailfreudigen Erzählungen über die dramatischen Umstände der Republikflucht entfalten beträchtlichen Unterhaltungswert und erinnern durchaus an Spielfilme wie „Ballon“ von Bully Herbig.
Brückner hatte aber auch Glück mit den Protagonisten. Karl-Heinz und Hedi, heute Anfang 70, sind auskunftsfreudig und schwelgen gerne in Erinnerungen, wenn sie die Schauplätze der historischen Ereignisse besuchen. Sie können gut erzählen, haben Humor und Selbstironie. Und sie zeigen vor der Kamera auch Gefühle. Als Hedi einen alten Liebesbrief vorliest, in dem sie von den „schönsten Tagen in ihrem Leben“ schwärmt, werden ihre Augen feucht – und Karl-Heinz wirkt konsterniert.
Der Film singt aber keineswegs ein naives Hohelied auf die ewige Liebe, sondern verschweigt bei allem romantischen Elan auch nicht, dass nicht jede große Liebe die Niederungen des Alltags schadlos überlebt. Einen wehmütigen Unterton hat die Regisseurin schon zu den ersten Bildern mit Karl-Heinz angestimmt, die mit dem Lied „Der Traum ist aus“ (1972) der sozialkritischen Band „Ton Steine Scherben“ unterlegt sind, in einer Cover-Version der jungen Münchner Gruppe „Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung“.
Selbstbestimmung, Freiheit und Identität
Brückner vergegenwärtigt nicht nur das damalige Lebensgefühl in Ost und West, die Reisesehnsucht der eingesperrten DDR-Bürger und die Auflehnung junger Bundesdeutscher gegen die Verbrechen im Vietnamkrieg oder die Fehlentwicklungen des Kapitalismus. Sie wirft am Beispiel des Liebespaares auch grundlegende Fragen nach Selbstbestimmung, Freiheit und Identität auf. In welcher Welt wollen wir eigentlich leben? Und wie viele Kompromisse sind wir bereit einzugehen?
Die spielerisch akzentuierte filmische Zeitreise in die Ära des Kalten Kriegs mit dem Machtkampf der Supermächte gewinnt durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zudem eine ungeahnte Aktualität. Plötzlich ist der längst überwunden geglaubte Ost-West-Konflikt inklusive der Drohung mit Atomwaffen wieder präsent.