Vorstellungen
Filmkritik
Um den Verlust der Religion geht es in dem R.E.M.-Hit eigentlich gar nicht, der in dem Spielfilmdebüt von Kurdwin Ayub Movens und Fixpunkt ist. „Losing My Religion“ ist ein alter Südstaatenausdruck und bedeutet so viel wie „die Nase voll haben“. In „Sonne“ kondensieren sich in der Songzeile dennoch die kulturellen Entfremdungs- und Selbstbefragungsprozesse, die die Protagonistin durchlebt. Yesmin ist Kurdin und trägt den Hijab. Ihre Wurzeln liegen im Irak, doch geboren wurde sie in Österreich. Gleich die erste Szene wirft mitten hinein in eine Realität, die immer schon medial mitgedacht wird. Yesmin und ihre Freundinnen Bella und Nati, die eine „Halbjugo“, die andere „Ösi“ durch und durch, posieren und twerken in den Hijabs von Yesmins Mutter und filmen sich dabei. Zu eben dem Song „Losing My Religion“ entsteht ein Musikvideo, das sich schnell zum kleinen YouTube-Hit entwickelt und unter jungen Frauen zahlreiche Nachahmerinnen findet. Der Text des Liedes erweist sich für die Figurendynamik als fast prophetisch: „That’s me in the corner, that’s me in the spotlight“, heißt es da. Aber auch: „You are not me.“
Mädchen mit Kopftuch
Im Gegensatz zu Yesmins Mutter, die sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt sieht, reagiert Vater Omar mit Stolz auf den Erfolg der Tochter: „Die Kommentare sind wirklich schön.“ Er begleitet die drei Freundinnen zu kleineren Auftritten auf kurdischen Festen; einmal singen sie auch im muslimischen Zentrum. Im Fernsehen bekräftigen die Freundinnen ihre Botschaft, den existierenden Stereotypen andere Bilder entgegensetzen zu wollen: Bilder von starken jungen Frauen, die der Schleier nicht davon abhält, zu singen und zu tanzen und dabei Spaß zu haben. Wobei die blonde Nati auch hier schon am lautesten über „Mädchen mit Kopftuch“ spricht.
Mit der medialen Aufmerksamkeit verändern sich allmählich die Rollen und Zugehörigkeiten. Bella und Nati sind von der fremden Kultur angezogen, genießen ihr verändertes Selbstbild im Hijab („Ich hab’ mich noch nie so schiach und geil zugleich gefühlt“) und lästern gleichzeitig über die schwitzige Kopfbedeckung, als sei ihre Freundin gar nicht anwesend. Während sie mehr und mehr in die kurdische Kultur eintauchen, geht Yesmin auf Distanz. Die Bekanntschaft mit zwei kurdischen Männern verschärft die Konflikte. Sie kritisieren Yesmin für das Video, werfen ihr Respektlosigkeit vor – bis auch Nati Bedenken anmeldet, sie könnten zu weit gegangen sein. Mit dem plötzlichen Verschwinden der beiden spitzt die Regisseurin den Film in eine spekulative Richtung zu. Das damit eröffnete Themenfeld ist allerdings so groß, das Yesmins Figur darin fast verloren geht.
Kurdwin Ayub, selbst Tochter aus dem Irak stammender Kurden, bereichert mit „Sonne“ die Debatten, die unter den Begriffen Identitätspolitik und kulturelle Aneignung geführt werden, mit einem ebenso offenen wie verspielten Teenagerfilm. Sehr entschieden stellt sie Ambivalenz vor Eindeutigkeit. Vertikaler Content wie Instagram-Filter, WhatsApp-Chats und Handyvideos verwebt der Film mit leichter Hand in die postmigrantische Lebensrealität. Die Darsteller sind zum großen Teil Laien; Yesmins Vater und Mutter hat die Regisseurin mit ihren eigenen Eltern besetzt.
Toleranz und Anpassungsdruck
Auch in den häuslichen Szenen im Wohnblock in der Wiener Peripherie sucht der Film offensiv den Bruch mit den Stereotypen, etwa mit der patriarchalen Figur des Vaters. Omar hat für alles Verständnis und leiht sich von seiner Tochter auch mal die Wimperntusche aus, um die grauen Haare in seinen Bart zu tönen. Seine Toleranz ist aber auch Ergebnis eines Anpassungsdrucks. Als die Polizei eines Nachts aufkreuzt, weil Yesmins Bruder sich an einer auf Instagram geteilten Schlachtung beteiligt hat, fordert er von seiner protestierenden Frau Respekt vor dem „Staat“ ein.
Mühelos verbindet Ayub die verschiedensten Tonlagen, wechselt zwischen Ironie und Ernst, Social-Media-Spinnerei und emotionaler Erschütterung. Einmal erzählt Yesmins Mutter, wie sie im Krieg acht Jahre lang mit ihrer Familie im Keller gelebt hat, bevor sie flüchteten. Die Bilder der Gegenwart haben ihre Erinnerungen wieder hervorgeholt: „Es wiederholt sich, immer wieder, immer wieder.“ Manchmal wird es in „Sonne“ ganz still.