- RegieDavid Teboul
- ProduktionsländerÖsterreich
- Dauer98 Minuten
- GenreDokumentarfilmHistorie
- TMDb Rating5/10 (2) Stimmen
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Filmkritik
In grobkörnigen, mitunter fast holzschnittartigen Schwarz-weiß-Bildern beginnt Sigmund Freud in Ich-Form seine Biografie als lockere chronologische Abfolge eines Lebens zu erzählen, vermischt mit Anekdoten und Erinnerungsbildern. Der alte Mann berichtet von seiner Kindheit und seinen frühesten Erinnerungen, etwa über seine erwachende Libido, als er mit zwei Jahren das erste Mal seine Mutter „nudem“ (nackt) sah. Oder über die Gasflammen auf dem Breslauer Bahnhof, die ihn an brennende Geister in der Hölle erinnerten. Der als Sigmund Schlomo Freud 1856 in Přibor (Freiberg) in Mähren geborene Junge gelangte als Dreijähriger mit seiner Familie nach Wien, wo er in der Leopoldstadt aufwuchs, einem jüdisch geprägten Viertel – ein „Ghetto ohne Mauern“.
Zu den Bildern eines Festumzugs erzählt Freud von seiner Schulzeit, von seiner Bibliophilie und seinem Drang, sich Wissen aus Büchern anzueignen. Ohne viel dafür tun zu müssen, war er im Gymnasium der Klassenbeste. Schon früh entwickelte er ein großes Interesse für Menschen, ihre Geschichten und Geheimnisse. Er war fasziniert von biblischen Themen und den teils verzwickten Familienverhältnissen. Auf sein Medizinstudium geht er nicht weiter ein; er kommt gleich zur Niederlassung als Arzt und zur Heirat mit Martha Bernays im Jahr 1886 – nach einer vierjährigen Verlobungszeit. Briefe an seine Frau erzählen von seiner rührenden Zuneigung für die Tochter eines Hamburger Rabbiners.
Ambitionen und Zweifel halten sich die Waage
Sein Interesse für die menschliche Seele wächst stetig. Seine Ambitionen wachsen dabei ungefähr im gleichen Maße wie seine Selbstzweifel. Der junge Arzt wird schnell auch Familienvater; 1895 kommt mit seiner Tochter Anna das sechste und jüngste Kind der Familie Freud zur Welt. Sie wird selbst Psychoanalytikerin, seine wichtigste Schülerin und die Chronistin seiner späten Jahre.
„Mein Vater sagt immer, die Biographen seien Lügner.“ Dieses Anna-Freud-Zitat weist den Weg zum Konzept von David Teboul. Die Entscheidung des Filmemachers, bis auf einen Erzähler ausschließlich Sigmund Freud und damalige Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen, ist die Grundlage für eine merkwürdig melancholische Aufrichtigkeit, aber auch für eine ebenso intensive, beinahe familiäre Atmosphäre. Das ist für einen Dokumentarfilm eher ungewöhnlich, doch Teboul gelingt es, in das Leben von Freud geradezu hineinzukriechen und es sich in den Bildern und Worten zu eigen zu machen, die von den handelnden Personen selbst stammen.
Die ausschließliche Verwendung von Originalquellen wird zur erschütternden Dokumentation, als es um die drohende und dann tatsächliche Verfolgung durch die Nazis nach dem „Anschluss“ Österreichs geht, die in der Flucht nach London endet. Sigmund Freuds Schwestern, die in Wien zurückbleiben müssen, werden deportiert und in den Vernichtungslagern ermordet.
Ein Jude ohne Gott
Form und Struktur von „Sigmund Freud – Freud über Freud“ erzählen von aufwändigen Recherchen, über die Teboul das passende Material gefunden hat. Dazu gehören viele Archivbilder sowie Clips aus alten Stummfilmen sowie Fotos und Szenen aus dem privaten Nachlass der Familie Freud; wobei sich das Material zu einem Gesamtwerk formt, das in der intimen Betrachtung der Freudschen Biografie und seiner Konzentration auf Anna Freud als Hauptperson in den späten Jahren gelegentlich eher an einen Spielfilm erinnert. Es gibt keine Interviews, es kommen keine Experten zu Wort, nur selten greift eine Erzählerstimme (von André Jung) in die Handlung ein, die vom Wollen und Werden eines wissbegierigen Forschers erzählt, aber auch vom Privatmann Sigmund Freud, der seine Frau und seine Familie liebte und eine große Zuneigung für seine Hunde empfand, die ihn über vieles hinwegtrösteten.
Es geht auch um Krankheiten, mit denen Freud schon früh zu kämpfen hatte. Seit den 1920er-Jahren litt er unter einer Krebserkrankung der Mundhöhle, die zahlreiche Operationen nach sich zog. Seine lebenslange Auseinandersetzung mit dem jüdischen Glauben, die ihn prägte und dazu brachte, sich mehr dem psychologischen Hintergrund der Religion zu widmen als dem Glauben selbst, spielt in „Sigmund Freud – Un Juif sans Dieu“, ein Jude ohne Gott, wie der Film im Original heißt, ebenfalls eine wichtige Rolle.
Die Möglichkeit zur Flucht ins Londoner Exil verdankte Freud zu großen Teilen einer Frau, nämlich Marie Bonaparte, die von einer Patientin zur Weggefährtin wurde und Freuds Arbeiten international förderte und verbreitete. Überhaupt scheint es, als ob in Freuds Leben Frauen eine wichtigere Rolle spielen als Männer: Martha Freud, Anna Freud, Marie Bonaparte. Auf der Liste fehlt die Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Lou Andreas-Salomé, die fälschlicherweise oft als Femme fatale und als eine Art Philosophen-Groupie betrachtet wird, die aber ebenfalls eine Schülerin von Freud und später Annas Freundin war; ihre psychoanalytischen Werke finden erst seit Kurzem Anerkennung.
Bilder und Töne, Form und Wesen
Die Stimmen des alten Sigmund Freud und seiner Tochter Anna Freud begleiten die Bilder, in atmosphärischer Stimmigkeit sehr schön gesprochen von Johannes Silberschneider und Birgit Minichmayr. Catherine Deneuve spricht eindringlich und in wunderbarer Tonalität die Marie Bonaparte, Andrea Jonasson leiht Lou Andreas-Salomé die Stimme; zusätzlich werden die Bilder von sanften Klezmer-Tönen umspielt.
Mit großer Kunstfertigkeit, die sich in manchmal augenzwinkernden, mal leichter, mal schwieriger verschlüsselten Bildern manifestiert, erzählt Teboul Freuds Leben nach und taucht in dessen Gedankenwelten ein. Besonders zu Beginn fügen sich Bild und Text keineswegs immer zusammen, sondern sie konterkarieren sich, manchmal auf amüsante Weise, zitieren sich oder widersprechen einander. Dadurch werden Assoziationen geweckt, die tatsächlich an Träume erinnern, auf ihre Weise Freuds Werke spiegeln und eine starke visuelle Kraft entwickeln. Das Geheimnis von „Sigmund Freud – Freud über Freud“ steckt darin, das Gesehene nicht einfach nur nachzuerzählen oder – andersherum – Töne nicht nur zu bebildern, sondern über die Form das Wesen des Menschen Sigmund Freud zu entdecken: Das macht den Film so sehenswert wie zu einem visuellen und geistigen Genuss.