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Filmkritik
Ein junges Paar zieht beim Candlelight-Dinner in einem edlen Restaurant zunehmend Blicke auf sich. Zuerst kommandiert der junge Mann den Kellner lautstark herum, ihm die teuerste Flasche Wein zu bringen. Dann bittet er seine Begleiterin mit dramatischen Worten aus dem Raum. Als die verunsicherte Frau zurückkehrt, steht eine Torte mit Kerzen auf dem Tisch, und da die anderen Gäste schon in das Schauspiel verstrickt sind, fangen sie an, „Happy Birthday“ zu singen. Die überwältigte Signe (Kristine Kujath Thorp) genießt die Aufmerksamkeit, doch ihr Freund Thomas (Eirik Saether) schickt sie erneut hinaus, denn er hat etwas ganz anderes vor. In der nächsten Einstellung sieht man ihn mit der 2.300-Euro-Weinflasche die Straße hinunterrennen, verfolgt von einem wütenden Restaurantmitarbeiter.
Es ist nicht das erste Mal, dass Signe von ihrem Freund für eine spektakuläre Diebesaktion zur Komplizin gemacht wird. In der Regel sind es hochpreisige Designermöbel, die Thomas mit ihrer Hilfe aus Geschäften entwendet. Die schicken Sessel und Stühle, die ihr gemeinsames Apartment in der Osloer Innenstadt füllen, dienen ihm als Basis für seine skulpturalen Installationen, mit denen er in der Kunstszene seinen Status als Enfant terrible pflegt. Signe bewundert ihren Freund und ist doch immer wieder gekränkt, auf den Vernissagen ignoriert oder für seine Schwester gehalten zu werden. Schmerzhaft wird ihr bewusst, dass sie eigentlich nur ein Anhängsel ist, das zu seiner Unterstützung und Bewunderung zur Verfügung stehen muss. Als sie auf einer Party lautstark damit prahlt, dass jemand ihr geraten habe, einen eigenen Podcast zu starten, weil doch ihr Humor so natürlich sei, fragt Thomas nur süffisant nach, wer das denn gesagt haben solle.
Die neue Lust an der Opferrolle
Die Positionen im Machtverhältnis zwischen den beiden changieren auf subtile Weise hin und her. Auch Signe zerstört gerne mit wenigen Worten das Selbstbewusstsein ihres Freundes, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommt, am liebsten vor Publikum. Ob pathologischer Narzissmus wohl eine Grundvoraussetzung dafür sei, um Künstler werden zu können, fragt sie einmal lautstark ihre Begleiterinnen. Thomas ist jedoch nur die grelle und besonders sichtbare Version eines Störungsbildes, das zugleich gesellschaftlich gefeiert und hochfunktional ist. „Sick of Myself“ widmet sich mit Signes Geschichte einer anderen, neuen Facette des narzisstischen Genießens, die sich heute durch die Ubiquität der sozialen Medien etablieren kann: Die Monetarisierung der Opferrolle.
Zur Urszene wird für Signe dabei ein Moment in ihrem Coffee-Shop, wo sie nach ihrem abgebrochenen Studium als Barista arbeitet. Als ein Kampfhund vor dem Laden eine Frau anfällt und schwer verletzt, eilt Signe schnell herbei. In der Unübersichtlichkeit des Geschehens ist ihre weiße Bluse plötzlich voller Blut. Passanten, Polizisten und Sanitäter knien bald in Sorge um sie herum, ein Sturm der Aufmerksamkeit überschwemmt sie noch Stunden später. Wie im Traum läuft Signe zu Fuß nach Hause, ohne sich umzuziehen, genießt, wie die Autofahrer entsetzt abbremsen und wildfremde Menschen in Panik zu ihr eilen. Selbst Thomas vergisst für einen Moment seine neue Cover-Story und prüft ihren Körper entsetzt auf Wunden. Zu schnell ist die Anteilnahme wieder vorbei, doch in Signe ist eine dunkle Idee erwacht.
Im Netz findet sie für diese recht schnell eine mögliche Umsetzung: Ein russisches Pharmazeutikum, das wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen wurde, verspricht die Lösung. Signe bestellt es ohne viel Aufhebens bei ihrem Hausdealer, einem gelangweilten, bourgeoisen Muttersöhnchen (Steinar Klouman Hallert). Viele neongelbe Tabletten später zeigt sich der erhoffte Effekt. Signes Haut beginnt aufzuplatzen und auf monströse Weise zu mutieren, was sie zu immer mehr Selfies motiviert. Zunächst ist Thomas verärgert, weil seine Freundin es durch ihr rätselhaftes Leiden geschafft hat, ihn, den angesagten Künstler, in jeder Situation aus dem Zentrum des Interesses zu verdrängen. Als er jedoch die bewundernden Blicke spürt, die ihn als Begleiter der Kranken adressieren, wechselt er schon bald strategisch in die Rolle des vermeintlich hingebungsvollen Kümmerers.
Kalkulierte Übertreibungen
„Sick of Myself“ entwickelt mit seinen Eskalationsstufen der kalkulierten Selbstzerstörung eine Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann. Sie bezieht ihre Spannung auch daraus, dass Signes Verhalten extrem erscheint und sich gleichzeitig doch nur graduell von gewöhnlichen und durchaus verbreiteten Verhaltensmustern und Fantasien unterscheidet. Den meisten Menschen dürfte der Wunsch vertraut sein, Mitleid und Zuspruch von anderen zu bekommen. Zugleich ist die Chance, beides zu erhalten, durch die medialen Möglichkeiten der Generierung von Aufmerksamkeit heute immens und verleitet zu Übertreibungen ebenso wie schamlos kalkulierten Inszenierungen. Mit lakonisch schwarzem Humor treibt der norwegische Regisseur und Drehbuchautor Kristoffer Borgli die narzisstische Performance seiner beiden Protagonisten schmerzhaft auf die Spitze. Aus der Suche nach Aufmerksamkeit für sich selbst wird eine autodestruktive Sucht. Dabei schießt Borgli an vielen Stellen äußerst pointiert gegen Phänomene des Zeitgeistes wie die Identitätspolitik und die Indienstnahme von Leitbildern der Diversität und Inklusion.
In einer Nebenrolle ist beispielsweise die bekannte norwegische Schauspielerin Andrea Bræin Hovig als kaltschnäuzige Model-Agentin zu sehen, die in den Behinderungen ihrer Klientinnen eine Marktlücke zur strategischen Bereicherung sieht und sich ansonsten nicht um deren Wohlbefinden oder Gesundheit schert. Signes entstelltes Gesicht soll ihrer Meinung nach Teil einer H&M-Werbekampagne werden, die „disruptiv“ und „edgy“ wirken soll, selbst wenn sie beim Shooting kollabiert. Immer wieder gleitet „Sick of Myself“ während solcher Szenen in die Tagträume der Protagonistin ab, was dem Film Freiraum für weitere ironische Überzeichnungen gibt.
Narzissmus der medialen Selbstoffenbarung
So sieht man Signe beim Sex mit Thomas von ihrer eigenen Beerdigung fantasieren, die so überlaufen ist, dass Türsteher Bändchen verteilen und verhasste Personen wie der selbstbezogene Vater oder die in Ungnade gefallene beste Freundin weinend draußen bleiben müssen. In einer weiteren Nebenrolle ist Anders Danielsen Lie aus Joachim Triers „Oslo“-Trilogie zu sehen, der Signe als Arzt in einer Albtraumszene gegenübertritt und dabei nicht nur ihre Lüge entlarvt, sondern alle möglichen persönlichen Defizite wie Unlustigkeit und Unbeliebtheit auf Partys diagnostiziert.
Doch selbst das Aufdecken von Signes pathologischer Täuschung der anderen ist im Film nicht das Ende der Geschichte, sondern der potenzielle Anfang einer lukrativen Selbstoffenbarung mit Buchvertrag. Vielleicht ist Signe auch gar keinem Störungsbild zuzurechnen, sondern einer neu entdeckten marginalisierten Identität, die andere dazu inspiriert, genauso offen mit den eigenen Verletzungen umzugehen und für dieses Self-Empowerment gefeiert zu werden. Mit bissiger Doppelbödigkeit gibt „Sick of Myself“ diese Unschärfe an potenziell hitzige Diskussionen des Publikums weiter.