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Filmkritik
In einem Interview mit seinem Freund Ulrich Wickert berichtete der Dramatiker Eugène Ionesco von einem Gespräch mit dem israelischen Landwirtschaftsminister. Auf die Frage des Politikers, was Ionesco an dem Land am meisten gefalle, habe der geantwortet: „Die Wüste.“ Sie sei ein Ort wirklicher Einsamkeit, und: „In der Einsamkeit finde ich den Menschen. In den Massen kann ich ihn nicht mehr finden.“
Der Film „Shikun“ des israelischen Regisseurs Amos Gitai basiert lose auf Ionescos Bühnenstück „Die Nashörner“. Der Filmemacher findet in dem Stoff, in dem sich Menschen nach und nach in Rhinozerosse verwandeln, vor allem den Widerspruch zwischen Masse und Individuum. Wie kann man ohne andere Menschen zum Mensch werden? Wie kann man trotz anderer Menschen ein Mensch bleiben? Ein Bild kehrt immer wieder: eine einzelne Person, die sich in der Menge auflöst und von den Horden verschluckt wird. Architekten, Lehrer, Musiker, Holocaust-Überlebende, Rebellen, Aktivisten und Migranten ziehen vorbei, aber keiner bleibt. Nur ein diffuses Gefühl von Wut und Hoffnungslosigkeit hat Bestand.
Irène Jacob führt durch den Film
Die einzelnen Figuren gehen unter in einem kaleidoskopischen Film, dem es nie auch nur um die Illusion von Ganzheitlichkeit geht. Wenn es eine Protagonistin gibt, dann die von Irène Jacob gespielte namenlose Erzählerin, eine ungefähre Entsprechung der Rolle des Bérenger im Theaterstück, wobei Jacob manchmal auch die Texte anderer Figuren spricht. Sogar die von Antagonisten.
Gitai löst die offene Dramaturgie des Referenzwerks fast vollständig auf und lässt nur einzelne Passagen, Themen und die Tendenz zu überlappenden Dialogen übrig. Der Film zeigt Vignetten, Miniaturen und Ornamente, sammelt seine Inhalte und Zitate wie eine Collage aus Architektur, Fotografie, Malerei, Theater und Musik. Neben Eugène Ionesco werden auch der palästinensische Dichter Mahmud Darwisch, Umberto Eco und die „Haaretz“-Journalistin Amira Hass zitiert. Der Saxophonist Louis Sclavis unterbricht ein Gespräch mit schrillen Tönen aus der Unschärfe des Hintergrunds. Ohnehin ist da immer irgendwo ein Widerspruch im Bild, ein Gegenangebot im Hintergrund.
„Shikun“ strebt nach Durchmengung, nach Austausch und Kommunikation. Der Mensch soll weder Insel noch Nashorn sein. Es treten Darsteller aus Russland, Indien, der Ukraine, Israel und den Palästinensergebieten auf, es werden viele Sprachen gesprochen. Man verfällt fast zwangsläufig ins Aufzählen, wenn man diesen Film beschreiben will. Manchmal gerät er ein wenig zu sehr zur Liste, zu einer Sammlung von Fußnoten. Oder – wenn man das noch kritischer sehen will – zum Lückentext voller Platzhalter, halbfertige Ideen, die an anderen halbfertigen Ideen wachsen sollen.
Große Flächen von Leere und Dunkelheit
Gitai verlegt „Die Nashörner“ nach Be’er Scheva im Süden Israels. „Shikun“ bedeutet in etwa „Sozialwohnung“, und tatsächlich spielt der Film vollständig in einem einzelnen Wohnkomplex. Gitai, Sohn des Bauhaus-Architekten Munio Gitai Weinraub und selbst ein promovierter Architekt, weiß um die ideologische und emotionale Macht von Gebäuden. Er lässt die Kamera von Éric Gautier in langen Einstellungen Begegnungsräume eröffnen, doch die Menschen finden trotzdem nicht zueinander. Selbst in der vermeintlichen Enge eines einzelnen Wohnkomplexes entstehen große Flächen von Leere und Dunkelheit. Die massiven Wände wirken nie, als könnte man ihnen etwas entgegensetzen.
Immer wieder unternimmt die Kamera seltsame Fluchtversuche. Lange Schwenks durch die Schatten der nächtlichen Stadt, Pirouetten über Palmen und angrenzende Strukturen. Auch der Film schlägt dann Volten; man weiß nie so recht, was als nächstes geschieht. Eine Blaskapelle zieht vorbei, eine Frau bastelt Nashornkostüme, ein Gespräch über Siedlungspolitik in der Tiefgarage, ein Mann im Halbschatten spielt ein Stück auf seiner Akustikgitarre, Irène Jacob präsentiert eine milde Variante der berühmtesten Szene aus Andrzej Żuławskis „Possession“.
Das Ergebnis ist nicht unbedingt inkohärent, sondern eine interessante Kombination aus Basis und Überbau. Vielleicht parallel zur Beziehung von Mensch und Architektur: Gebäude schaffen Grundvoraussetzungen, aber Menschen können entscheiden, wie sie in ihnen leben.
Das Gegenteil eines Käfigs
„Shikun“ ist ein Film, der sich immer wieder verwandelt und damit interessanterweise von der Weigerung erzählt, sich zu verwandeln. Denn Jacobs Erzählerfigur deutet die Nashörner als Zeichen von Feigheit und Konformismus. Sie will nicht wie sie werden. Sie will Mensch bleiben. Die Einsamkeit der Wüste ist nicht erreichbar oder keine Option. So bleibt vorerst nur die Verzweiflung. „Shikun“ wurde vor dem Hamas-Angriffen vom 7. Oktober 2023 fertiggestellt und entstand unter dem Eindruck der öffentlichen Diskussion um die Justizreform. Kritiker fürchteten um den israelischen Rechtsstaat, auf den Straßen trafen Demonstranten verschiedener Fraktionen aufeinander.
Als Gegner der Netanjahu-Regierung sah Gitai seinen Film von den Ereignissen dann überrollt. Im neuen Kontext bedeutete „Shikun“ etwa anderes; Gitai sah sich mit der Frage konfrontiert, ob er den Film noch einmal abändern sollte. Er entschied sich dagegen. So wird der Film selbst wie das titelgebende Gebäude: Er setzt Rahmenbedingungen. Das Fragmentierte der Erzählung ist das Gegenteil eines Käfigs, nicht vergleichbar mit einem starren Betonklotz. Vielleicht findet man ja nicht nur in der Wüste noch Menschen.
Mittlerweile hat Amos Gitai schon einen weiteren Film gedreht; er jagt dem hastigen Lauf der Welt hinterher. Das ist nicht immer die beste Position für einen Künstler. „Why War“ adaptiert den berühmten Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Albert Einstein im Jahr 1932.