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Filmkritik
„Du bist gebrauchtes Geschirr. Wer will dich schon wiederhaben?“, beschimpft die Schwiegermutter die junge Santosh (Shahana Goswami), deren Mann im Polizeidienst zu Tode gekommen ist. In Indien ziehen Frauen auf dem Land normalerweise zu den Schwiegereltern. Doch Santoshs Ehe war eine Liebesheirat; das junge Paar hatte für sich allein eine bescheidene Wohnung eingerichtet. Zwei Jahre später steht die 28-jährige Witwe allein da und verfügt über keinerlei Einkommen. Bis sie erfährt, dass es bei der Polizei eine sogenannte Mitleidsrekrutierung gibt. Dabei kann sie als Ehepartnerin ihres verstorbenen Mannes dessen Arbeitsplatz erben.
Auf diese Weise stößt Santosh zur Polizei, erhält eine beige Uniform, eine kurze Ausbildung und muss zunächst in minder schweren, meist sittlichen Angelegenheiten schlichten. Eine junge Frau darf sich beispielsweise an einem jungen Mann rächen, der sie im Stich gelassen hat. Unter Aufsicht der Polizei ohrfeigt sie ihn und fühlt sich rehabilitiert. Eine solche Praxis wäre in westlichen Ländern undenkbar, doch in der kleinen Stadt, in der Santosh dient, nimmt sich die Polizei viele Rechte heraus.
Ein Fall, der hohe Wellen schlägt
Das spürt Santosh auch bei einem Aufsehen erregenden Mordfall im Ort. Ein junges Mädchen, eine Dalit namens Devika, wurde vergewaltigt und ermordet. Da sich männliche Polizisten weigern, mit der Leiche einer sogenannten „Unberührbaren“ auch nur konfrontiert zu werden, begleitet Santosh deren Transport zum Pathologen. Sie ermittelt auch in dem Fall, der in dem Städtchen hohe Wellen schlägt. Nachdem die Angehörigen ihrer Kaste protestiert haben und das Fernsehen über den Fall berichtet hat, wird der den Unberührbaren gegenüber feindselig eingestellte Polizeichef versetzt. Er ist allerdings nicht der Einzige, der so denkt. Männliche Mitglieder hoher Kasten verweigern dem Trauerzug den Durchzug durch ihr Gebiet.
Nun übernimmt die erfahrene Ermittlerin Geeta Sharma (Sunita Rajwar) den Fall, und Santosh arbeitet ihr zu. Bald findet die junge Frau heraus, dass Devika mit einem jungen Muslim namens Saleem Handy-Nachrichten austauschte. Zwar ist Sharmas Hass auf Muslime unübersehbar, doch Santosh fühlt sich von der Aufmerksamkeit, die sie von der charismatischen Vorgesetzten erfährt, geschmeichelt und ernst genommen. Die junge Polizistin findet heraus, wo Saleem sich aufhält. Kurz darauf wird er verhaftet.
Die ethnischen und sozialen Spannungen in diesem gesellschaftskritischen Krimi werden wie vieles andere nie explizit thematisiert, sondern offenbaren sich in den Aussagen und Taten der hinduistischen Protagonisten. Zwischen den Kasten und Religionen verlaufen scheinbar unüberwindliche Gräben. So erfährt man ebenfalls eher beiläufig, dass Santoshs Mann bei Unruhen in einem muslimischen Viertel erschlagen wurde. Noch mehr als Muslime sind in den oberen hinduistischen Schichten und bei den Beamten allerdings die Unberührbaren geächtet. So werden die Räumlichkeiten der Polizeiwache von den Beamten penibel gesäubert, nachdem Devikas Vater das Verschwinden seiner Tochter dort gemeldet hat.
Um den Preis der Unschuld
Regisseurin Sandhya Suri erzählt ganz aus der Perspektive der unerfahrenen jungen Santosh, die im Verlauf ihrer Ermittlungen schmerzhafte Erkenntnisse sammelt und ihre moralische Unschuld verliert. Sie bewegt sich als Frau in einer sexistischen Gesellschaft, in der sie von Männern mehr oder weniger gegängelt wird. Abfällige Bemerkungen oder indiskrete Fragen gehören zum Alltag. Geschützt wird sie lediglich durch die Uniform, da diese auch Männern klarmacht, dass ein übergriffiges Verhalten Konsequenzen für sie haben könnte. Santosh schätzt deshalb die weibliche Solidarität Sharmas umso mehr, merkt aber zu spät, dass diese andere gefährliche Vorurteile hat.
Der anfangs staunende Blick, mit dem Santosh durch den Polizeialltag wandelt, trübt bald ein und involviert sie mehr und mehr in den realen Alltag. Sie lernt sehr schnell, macht sich dabei auch die Hände schmutzig und hört trotzdem mehr auf ihr Gewissen als auf alteingesessene Kollegen.
Santosh bewegt sich in einer streng hierarchisierten Gesellschaft, in der die sozialen Ungleichheiten jederzeit explosive Situationen zeitigen können. Die allgegenwärtige Korruption und Gewalt, etwa in den Büros und Kellern des Polizeireviers, wird vom Gesetz nicht gedeckt. Doch angesichts der Größe des Landes können Verstöße gegen Recht und Moral oft nicht geahndet werden.
Authentische Drehorte
Zudem gibt es viele ungeschriebene Gesetze in der nordindischen Region, deren Orte selten beim Namen genannt werden. Die Kaste der Unberührbaren bekommt die Ablehnung mächtigerer Schichten am bittersten zu spüren. Doch da Teile der Presse als kleines Korrektiv zu ihren Gunsten agieren, suchen sich Beamte und gesellschaftliche Entscheider andere Opfer.
Gedreht wurde der Film in Nordindien und in authentischen Drehorten, etwa einem realen Polizeirevier. Die Locations werden geschickt in den spannenden Krimiplot eingebunden, der mit Licht und Schatten spielt, etwa wenn Santosh vor Saleems Verhaftung durch dunkle Gassen des muslimischen Viertels schleicht oder sich in einem schäbigen Hotel ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihm liefert.
Die junge Polizistin deckt aufgrund ihres Geschlechts viel mehr Missstände auf als ein männlicher Polizist; nicht zuletzt auch, weil sie öfter in Gefahr gerät. Die Hauptdarstellerin Shahana Goswami beglaubigt durch ihr nuanciertes, uneitles Spiel überzeugend die Entwicklung der Protagonistin. Die ist eine junge, moderne Frau, die nicht nur regelmäßig joggt, sondern sich auch eine geistige Mobilität bewahrt. Dazu gehört ein Rest Zweifel, den ihre ältere Kollegin Sharma längst abgelegt hat. Sharma tritt zwar kämpferisch auf, hat sich aber in einem zynischen Pragmatismus samt ideologischer Radikalisierung eingerichtet. Auch hat sie sich mit so manchem Missstand in der indischen Gesellschaft abgefunden. Dazu gehört auch eines der ungeschriebenen Gesetze: „Es gibt zwei Arten von Unberührbaren: Diejenigen, die man nicht berühren will, und diejenigen, die man nicht anrühren darf.“