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Filmkritik
Ein dunkler, nebeldampfender Wald, ein abgehetzter Reiter auf der Flucht, die Verfolger dicht auf den Fersen. So beginnt die Serienadaption von „Ronja Räubertochter“ und könnte damit auch dem Horrorfilm „Sleepy Hollow“ von Tim Burton entsprungen sein. Doch anstatt den Schädel durch die scharfen Klingen des kopflosen Reiters zu verlieren, landet ein spitzer Pfeil im Rücken des Verfolgten. Was für ein Paradigmenwechsel ist das im Vergleich zur ersten Astrid-Lindgren-Verfilmung von 1984, in deren erster, statischer Szene mehrere Minuten lang die Credits zum Einzug der Räuberbande in die Mattisburg abrollten.
Für Kinder, die mit dem Fantasy-Kino groß wurden
Im Interview erklärte Regisseurin Lisa James Larsson, dass sie die Neuadaption des weltberühmten Romans für Jugendliche konzipiert habe, die mit den „Harry Potter“- und „Herr der Ringe“-Filmen aufgewachsen sind. Da die ersten sechs der zwölf geplanten Folgen von „Ronja Räubertochter“ im weihnachtlichen Fernsehprogramm laufen, richtet sich die Serie auch an die Eltern der Zielgruppe, die das Buch als Kinder selbst verschlungen haben. Sie sind es, die nun auf ein Leben zurückblicken, für das die Lektüre von Astrid Lindgren die mentale Grundlage schuf.
Die schwedische Autorin hat gleich mehrere Generationen von Jungen und (vor allem) Mädchen mit einer damals ungewöhnlich selbstständigen weiblichen Hauptfigur sozialisiert, die ihren „Bruder“ Birk, den Spross des verfeindeten Räuberhauptmanns Borka, in Sachen Mut und Erfindungsgeist übertrumpfte. Seit ihrer Begegnung an der „Höllenschlucht“ streifen Ronja und Birk zusammen durch den Mattiswald. Die Kinder überstehen Abenteuer und Gefahren, während sich die Erwachsenen aufgrund einer alten Fehde am liebsten die Köpfe einschlagen würden. Aber auch die Bedrohung durch die benachbarten, um die Sicherheit ihrer Händler bangenden Dorfbewohner nimmt zu.
Für Mattis war Borka einst ebenso ein „Blutsbruder“ wie Birk nun für Ronja, bis die beiden dickköpfigen Männer durch einen lange zurückliegenden Verrat zu Todfeinden wurden. Auch Ronjas Mutter Lovis ist ihrem vor sich hin wütenden Mann haushoch überlegen, wenn es um Einfallsreichtum oder Raffinesse geht; die Führung im Haus oder bei der Räuberbande würde sie ihm jedoch niemals streitig machen.
Der Weg ins Leben ist von Gefahr umlagert
Ronja, dem Kind der Natur, die anfangs noch nicht über den brutalen Beruf ihres Vaters weiß, steht die Welt offen. In der Serie erscheint diese Welt so (lebens-)gefährlich, dass man sich wundert, warum die Eltern ihre Tochter alleine auf Erkundung gehen lassen. Sich von Angst ernährende Graugnome, mit scharfen Krallen bewehrte Wilddruden und drollige Rumpelwichte („Wiesu denn bluß?“) bevölkern den Mattiswald zusammen Ronja, die in einer unvergleichlichen Sturmnacht geboren wurde, während Wilddruden aggressiv die Burg umkreisten. Der Weg ins Leben und in die Freiheit ist hier noch stärker von Momenten der Gefahr begleitet als im Buch oder in der Kinoverfilmung von Tage Danielsson aus dem Jahr 1984. „Ein Auge zum Himmel“, lautet denn auch die neu hinzugedichtete Losung bei jedem Abschied, mit dem die Eltern ihr Kind in eine feindselige Welt der Ungewissheiten entlassen, die mit dem modernen Anspruch einer Komplettabsicherung absolut nichts zu tun hat.
Auch wenn Look und Stimmung der Vorlagen einer Frischzellenkur unterzogen wurden, sind die universalen Themen von Astrid Lindgren gleich geblieben. Es geht um Freundschaft, die Loslösung aus elterlichen Ansprüchen, um Betrug und Verrat, soziale Ungleichheit und wie man Feindschaft überwindet. Themen, wie sie mit Blick auf die Gegenwartslage aktueller nicht sein könnten.
In der Jetztzeit angekommen
Doch der Fokus auf das Dunkle und Tragische der Welt, das die Jugendliteratur von Astrid Lindgren immer ausgezeichnet hat, raubt dem Stoff auf der anderen Seite die Leichtigkeit und den märchenhaften Charme, den die Kinoverfilmung aus dem Jahr 1984 noch besaß. Wenn sich Ronja und Birk das erste Mal begegnen, wenn sie durch den Wald stromern oder mit ihren Eltern aneinandergeraten, schaffen es Kamera und Schnitt nicht, ausreichend emotionale Wucht zu erzeugen. Dass im Mittelalter von Männern bekleidete Rollen wie der des Dorfvogts oder die von ihm angeheuerten Söldner nun von Frauen gespielt werden – ein der Geschichte hinzugefügter Nebenstrang –, sorgt zwar ähnlich wie die ethnisch breitgefächerte Räuberschaft für eine diversere Besetzung, aber nicht unbedingt für das Gefühl, dass hier eine Mär aus alten Tagen erzählt wird.
Man könnte auch sagen: „Ronja Räubertochter“ ist in der Jetztzeit mit all ihren Chancen und Anforderungen angekommen, hat dabei aber unterwegs gelegentlich die beiden Hauptfiguren und die jüngeren Leser:innen aus dem Blick verloren. Das macht die Serie dennoch zu einer unterhaltsamen, dank der zwölf Folgen stärker ins Detail gehenden Romeo- und Julia-Variation in wilden Wäldern. Wahrscheinlich war das ein notwendiger Schritt, um Lindgrens vielschichtigstes und imaginationsstärkstes Buch für die Gegenwart frisch aufzubereiten. Ein Klassiker wie es die Tage-Danielsson-Verfilmung für die Vorgängergenerationen war, wird die Serie von Lisa James Larsson nicht werden. Dafür ist allein schon die Konkurrenz an fantastischen Geschichten mit ähnlich universellen Botschaften viel zu groß.