Vorstellungen
Filmkritik
Menschen strömen in ein Gerichtsgebäude, um den Prozess gegen den mehrfachen Mörder Ludovic Chevalier (Maxwell McCabe-Lokos) zu verfolgen. Vor laufender Kamera soll der „Dämon von Rosemont“ für ein zahlendes Publikum drei Teenagerinnen gefoltert und ermordet haben. Weil der Täter in den Videos jedoch wegen einer Sturmhaube nicht eindeutig identifiziert werden kann, soll die Verhandlung Licht ins Dunkel bringen.
Der kanadische Regisseur Pascal Plante beginnt mit einer falschen Fährte. Minutenlang gleitet die Kamera durch den sterilen Gerichtssaal, macht mit Geschworenen und Angehörigen bekannt, lässt Staatsanwältin und Verteidiger ihre Plädoyers vortragen und fokussiert schließlich mit unheilvoller Langsamkeit den blassen, gebückten Angeklagten, der sich das alles regungslos anhört.
Auch wenn man in dieser Plansequenz einige relevante Details erfährt, spielen die meisten Figuren für den weiteren Film keine Rolle. Und auch das angedeutete Gerichtsdrama läuft schon mit dem nächsten Szenenwechsel ins Leere. Dieser Auftakt ist charakteristisch für den Film, weil es ihm immer wieder gelingt, Erwartungen zu unterlaufen, ohne dabei an Spannung einzubüßen.
Eine dunkle Faszination
Die Handlung von „Red Rooms“ kreist nicht um die Schuld des Angeklagten, sondern um das wortkarge Model Kelly-Anne (Juliette Gariépy), das dem Prozess als Zuschauerin beiwohnt. Dass sie in der kalten Nacht vor dem Gericht in Montreal campiert hat, um einen der begehrten Plätze zu ergattern, offenbart ihre Obsession mit dem Mörder. Wer sie ist und was sie will, lässt der Film weitgehend im Unklaren. Die Hauptdarstellerin Juliette Gariépy verleiht ihrer Figur eine dunkle Aura, aber auch etwas Verletzliches, was neugierig macht. Wirklich schlau wird man aus der Protagonistin jedoch bis zum Schluss nicht.
In ihrer improvisierten Wohnung in einem anonymen Hochhaus wirkt Kelly-Anne wie ein Geist. Von einem normalen sozialen Leben hat sie sich entfremdet. Ihre einzige Ansprechpartnerin ist eine künstliche Intelligenz. Ihren Alltag verbringt sie überwiegend im virtuellen Raum, wo sie ihre digitalen Spuren zu verwischen weiß. „Red Rooms“ fesselt oft nur durch den schlichten Wechsel zwischen Gesicht und Desktop. Man folgt Kelly-Anne dabei, wie sie ihr Geld mit Online-Poker verdient, der Mutter eines Opfers nachstellt oder sich auf eine riskante Suche im Darknet macht.
Mit der unheilvoll schwebenden Kamera von Vincent Biron und dem verspielt nostalgischen Score von Dominique Plante schafft „Red Rooms“ eine stylishe Welt aus Oberflächen und Geheimnissen. Bei avantgardistischen Fotoshootings wirft sich Kelly-Anne in expressives Make-up und stilisierte Posen, während ihr Innenleben ein Mysterium bleibt.
Über die Abgründe der Schaulust
Dass man der Protagonistin gebannt zusieht, von ihr aber stets auf Distanz gehalten wird, passt zu einem Film über die Faszination des Bösen und die Abgründe der Schaulust. Irritierend ist mitunter nur, dass „Red Rooms“ die Beweggründe der Protagonistin nicht einfach links liegen lässt, sondern sie immer wieder zu erforschen versucht, letztlich aber seltsam vage bleibt.
Ein wenig aus der Reserve gelockt wird Kelly-Anne von einem quirligen, dauerquasselnden Groupie des Mörders. Im Gegensatz zum abgeklärt-distanzierten Model ist die naive Clementine (Laurie Babin) in Chevalier regelrecht vernarrt, den sie mit abenteuerlichen Verschwörungstheorien verteidigt. Für sie ist er eine einzige Projektionsfläche, die sie fein säuberlich von seinen grausamen Taten trennt. Das Einzige, was sie in seinen traurigen blauen Augen sehen will, ist seine Unschuld.
Immer wieder geht es in „Red Rooms“ darum, wie von den unaussprechlichen Verbrechen abstrahiert wird. Mal über Clementines Schwärmereien, mal über geschmacklose Witze in einer Fernsehshow. Auch der Film zeigt die Taten nicht. Lediglich das Flehen der Opfer ist zu hören, während der Computerbildschirm Kelly-Annes ausdrucksloses Gesicht rot erleuchtet. „Red Rooms“ führt vor Augen, dass die Faszination für den Mörder und seine Verbrechen am besten gedeihen, wenn die bestialischen Ausmaße der Tat ausgeblendet werden.
Komplize des Bösen
Trotzdem ist der Film keine moralisierende Anklage. Als Betrachter solcher Gräuel wird man zwar unweigerlich zum Komplizen, doch Sehen bedeutet hier auch Verstehen. Erst als sich Clementine eines der Snuff-Videos ansieht, bricht ihr mühsam konstruiertes Fantasiegebilde in sich zusammen.