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Filmkritik
Nach 17 Jahren kehrt Mikey (Simon Rex) wie ein geprügelter Hund nach Texas City zurück. In Los Angeles war er ein erfolgreicher Pornodarsteller, aber die Schrammen in seinem Gesicht zeugen davon, dass es zuletzt nicht mehr so gut lief. Dass er an dieser Situation vermutlich nicht ganz unschuldig ist, zeichnet sich ab, wenn er vor der Tür seiner Noch-immer-Ehefrau Lexi (Bree Elrod) wortreich darum bettelt, für eine Weile bei ihr unterzukommen. So unerbittlich, abweisend und emotional, wie sie auf sein Suchen reagiert, lässt sich schon erahnen, wie verletzend Mikey sein kann.
Mit betont gelassener Erzählhaltung gibt Regisseur Sean Baker seinem Protagonisten viel Zeit, um uns zu vermitteln, was ihn gleichermaßen charismatisch und unmöglich macht. Mikey ist begeisterungsfähig und kontaktfreudig, hat schöne blaue Augen und das Talent, jemanden so lange mürbe zu quatschen, bis dieser nur noch nachgeben kann. Wenig Erfolg hat er damit zwar bei potenziellen Arbeitgebern, die ihm wegen seiner Vergangenheit eine Abfuhr geben, umso mehr aber bei Lexi und ihre Mutter Lil (Brenda Deiss), die dem Verstoßenen schließlich doch Unterschlupf gewähren, sowie bei der Dealerin Leondria (Judy Hill), für die Mikey beginnt, Gras zu verkaufen.
Heruntergekommen und karg
Ebenso wie von seiner Hauptfigur erzählt „Red Rocket“ auch von dem Milieu, in dem sie sich bewegt. In den episch breiten Bildern bleibt stets genug Platz, um den Blick über heruntergekommene Wohnungen und karge Industrielandschaften schweifen zu lassen. Immer wieder fährt der gut gelaunte Mikey mit einem viel zu kleinen Fahrrad an Ölraffinerien, endlosen Freiflächen und leerstehenden Tankstellen vorbei. Theoretisch mag die Weite hier Freiheit versprechen, aber das Leben ist statisch, perspektivlos und von Armut geprägt. Das Morgenritual von Schwiegermutter Lil bringt den Alltag auf den Punkt: Nach dem Aufstehen zündet sie sich erstmal eine Zigarette an und setzt sich umgehend vor den Fernseher.
Bakers Figuren sind Underdogs mit gekrümmter Haltung und Gesichtern, in die sich Müdigkeit und Enttäuschung geschrieben haben. Viele der markanten Beteiligten sind Laien oder bisher nur vereinzelt vor der Kamera gestanden. Der energetische Hauptdarsteller Simon Rex hat als 18-Jähriger selbst in ein paar Pornos mitgespielt, bevor er MTV-Moderator, Schauspieler und Rapper wurde. Zumindest was Hartnäckigkeit, Ehrgeiz und Improvisationstalent angeht, scheint Rex einiges mit seiner Rolle zu teilen.
Zeigen statt einordnen oder urteilen
Der Blick auf die Figuren ist in erster Linie beobachtend, nicht durch Mitleid oder Sentimentalität getrübt. Überhaupt steckt die Qualität von „Red Rocket“ eher darin zu zeigen als einzuordnen oder zu urteilen. Donald Trump etwa flackert erwartungsgemäß über Fernsehbildschirme und prangt auf Plakatwänden, aber seine Popularität ist hier eine bloße Tatsache, kein Anlass für plumpe Gegenwartsdiagnosen.
Ähnlich desinteressiert zeigt sich Baker an moralischen Fragen. Wenn Mikey etwa mit der 17-jährigen Donut-Verkäuferin Strawberry (Suzanna Son) anbandelt und hinter ihrem Rücken plant, aus dem Mädchen einen Pornostar zu machen, um seiner eigenen, altersbedingt ins Stocken geratenen Karriere wieder Schwung zu verleihen, spitzt Baker das nicht zur Ausbeutungs- oder Missbrauchsgeschichte zu. „Red Rocket“ stellt klar, dass die kokette junge Frau weiß, was sie tut, und dabei mitunter nicht weniger manipulativ und eigennützig vorgeht als Mikey. Sex fordert sie geradezu aggressiv ein, ihren gleichaltrigen Freund entsorgt sie mit ausgesuchter Grausamkeit.
Wie ein Parasit
Bakers Strategie, ganz in den oft monotonen und ereignislosen Alltag seiner Figuren einzutauchen, trägt oft Früchte, führt allerdings auch im allzu zerstreuten Mittelteil dazu, dass der Film teilweise nicht mehr vom Fleck kommt. Mit der Zeit schält sich aus den Beobachtungen jedoch ein Konflikt heraus, den Mikey nicht mehr elegant lösen kann. Während Lexi langsam wieder Gefühle für ihn entwickelt, plant er mit Strawberry bereits eine gemeinsame Zukunft. Beide Frauen mag er irgendwie, aber er ist auch wie ein Parasit, der sich von anderen das holt, was ihm selbst nützt.
Wegen seinem teilweise komödiantischen Erzählton und der Komplizenschaft, die wir lange mit Mikey teilen, hat „Red Rocket“ etwas von einer Schelmengeschichte. Der naive Nachbarsjunge Lonnie (Ethan Darbone), der sich ehrfürchtig die blumig ausgeschmückten Geschichten aus dem Sehnsuchtsort L.A. anhört, wird dabei zur tragischen Figur. Anders als Mikey kommt er nicht mit allem durch. Weil er eine Veteranenjacke trägt, ohne gedient zu haben, wird er von zwei Soldaten in einen Brunnen geschubst.
Ein ungewöhnlich dramatischer Zwischenfall
Mikeys Lügen sind einzeln betrachtet zwar recht harmlos und erfolgen ohne böse Absicht, können aber viel Schaden anrichten. Gegen Ende kommt es zu einem Zwischenfall, der ungewöhnlich dramatisch für „Red Rocket“ ist und ihm doch noch einen moralischen Twist verleiht. Denn plötzlich geht es um keine beiläufigen Manipulationen mehr, sondern um eine sehr bewusste Entscheidung Mikeys, ob er sich der Verantwortung für sein Tun stellen will.
Als während des Vorspanns der Trennungssong „Bye Bye Bye“ von der Boyband NSYNC zu hören ist, wirkt das zunächst wie ein bloßer Kommentar auf Mikeys Vergangenheit. Tatsächlich entwickelt sich das Lied im Laufe des Films zum Leitmotiv und beschreibt den nötigen Umgang mit einem Typen, der zwar kein richtiges Scheusal ist, den man aber möglichst schnell loswerden sollte.