![Szene %1 aus %Pocahontas](https://static.kinoheld.de/images/film/pocahontas-63997-1.v17248191507164.jpg?w=220&h=110&fm=webp&q=90&fit=crop)
Vorstellungen
Filmkritik
"Kannst du malen wie das Farbenspiel des Winds?", fragt die Häuptlingstochter Pocahontas ihren englischen Begleiter. Natürlich kann John Smith nichts dergleichen. Wer, außer den Trickfilm-Virtuosen des Disney-Studios, wollte es wagen, ausgerechnet diese recht esoterische Metapher zum Maßstab seiner Kunst zu wählen? Und doch ist es wahr: Wenn es etwas gibt, das den neuesten Disney-Zeichentrickfilm auszeichnet, so sind es seine Farben: sie sind glasklar, stets erfüllt ein kühles, zartes Blau die Luft. Jene Frische ist zurückgekehrt, die in den 40er Jahren die Gestalt der Filme bestimmte, als sich Walt Disney in "Melody Time" den amerikanischen Mythen zuwandte. Damals wie heute beschwören die Farben mit aquarellhafter Transparenz die Sehnsucht nach der Unschuld einer Vergangenheit, die nie Wirklichkeit gewesen ist, die Zeit der sagenumwobenen Pioniere Paul Bunyan oder Johnny Apfelkern. Letzterer heißt es, hat das ganze Land mit Apfelbäumen kultiviert. Eines aber ist diesmal anders: nicht die weiße Kultur soll in diesen lichten Farben heraufbeschworen werden, sondern die uramerikanische, die indianische, deren Naturverbundenheit Vorbild sein soll; ein Amerika, so unschuldig und friedvoll wie das der legendären Pioniere - nur ohne Apfelbäume.
Pocahontas ist eine historische Figur (vgl. fd 15/1995). Im Jahr 1607, als sie den britischen Kolonialisten John Smith kennenlernte, war sie in Wirklichkeit gerade elf Jahre alt. Berühmt wurde sie für ihre Rolle als beherzte Vermittlerin zwischen Ureinwohnern und Invasoren, wie immer man sich dies auch vorstellen mag. John Smith nannte sie 1624 in seinen Erinnerungen seine Lebensretterin. Zu diesem Zeitpunkt war Pocahontas bereits gestorben: Als Frau eines anderen Kolonialisten war sie nach England gegangen, wo sie mit nur 21 Jahren den Pocken zum Opfer fiel. Disneys Pocahontas ist ein glücklicheres Leben beschieden. Das Studio würde seinem Ruf nicht gerecht, hätte es sich nicht entschieden, die Geschichte ins Märchenhafte zu verklären. Während John Smith von London aus in Richtung Neue Welt segelt, erlebt man Pocahontas inmitten ihrer geliebten Natur. Ganz sorglos ist ihr Leben dennoch nicht, denn ihr Vater, Häuptling Powhatan, würde sie gern mit dem jungen Krieger Kocoum verheiraten, der sie allerdings kaum beeindrucken kann. Ermuntert von einer sprechenden Weide, möchte sie lieber ihrem Herzen folgen. Da landet das englische Schiff; gierig nach Gold gibt Gouverneur Ratcliffe Befehl zum Angriff auf die vermeintlichen "Wilden". Davon unberührt lernen sich Pocahontas und John Smith im Wald kennen, nicht anders als Disneys "Domröschen" ihren Prinzen traf. Pocahontas' Lebensphilosophie nimmt Smith die Arroganz des Kolonialherren. Als jedoch Kocoum ihn angreift und durch einen Engländer ums Leben kommt, wird Smith zum Tode verurteilt. Pocahontas wirft sich vor ihren Schützling, der seinerseits den Häuptling vor einem britischen Angriff retten kann. Den Siedlern gelingt es, sich ihres despotischen Kommandanten zu entledigen, auf das erst einmal Friede zwischen den Kulturen einkehrt.
Warum nur kann Pocahontas nicht rühren, so wie es noch ihren seelenverwandten Vorgängerinnen Arielle und Belle (in "Die Schöne und das Biest"), gelang, die sich ebenfalls unstandesgemäß verliebten? Die Antwort, würde Pocahontas sagen, weiß ganz allein der Wind. Das Farbenspiel in Ehren, ebenso die "Stimmen in den Bergen", und selbst das vielbeschworene "Heulen der Wölfe unter'm Silbermond" ließe man sich hoch gefallen, wenn es denn nur in Stimmung versetzte. Nie jedoch war ein Disney-Zeichentrickfilm bei aller technischen Brillanz so leer und einfallslos. Die Dramaturgie folgt dem Rhythmus einer Broadway-Show mit wohlplazierten Couplets und imposanten Aktschlüssen. Walt Disney hätte dies gehaßt, doch seit die nach ihm benannte Company auch ein Broadway-Theater unterhält, wird man sich daran gewöhnen müssen. Nur wenige Tiere kommen vor, und die menschlichen Figuren wirken grob und unbeseelt. Bei allem Bemühen um "politische Korrektheit" hat man sich eines überkommenes Ideals von kantiger Männlichkeit und intuitiver Weiblichkeit bedient, das in den Hauptfiguren unübersehbar und allgegenwärtig ist. Den ganzen Film über kann man sich nicht an John Smith gewöhnen, und auch Pocahontas' Schönheit teilt sich nicht mit. Auf welches Publikum diese Liebesgeschichte zielt, ist unverständlich. Kinder jedenfalls kommen kaum auf ihre Kosten.
Das Ergebnis ist um so bedauerlicher, als das Disney-Studio seit den 40er Jahren an einem Indianerfilm bastelte und einer der großen alten Meister, Joe Grant, als Co-Autor firmiert. Wo aber sind die visuellen Einfälle, die früher auch aus der unscheinbarsten Musiknummer ein Ereignis machten? Der Einfluß des ausgeschiedenen Trickfilmchefs Jeffrey Katzenberg muß größer gewesen sein, als bislang angenommen. "Pocahontas" fehlt jene kreative Kraft, die aus perfekter Animation erst ein liebevolles Kunstwerk macht. So ist weniger die umstrittene Naturromantik und Verklärung des Indianerbildes für das Scheitern des Films verantwortlich zu machen als die einfallslose visuelle Umsetzung.