- RegieSabine Lidl
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2013
- Dauer62 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
- IMDb Rating6.5/10 (17) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Es wird wieder über, wegen und mit Nan Goldin gestritten. Manche Traditionen sind eben unverwüstlich. In den letzten Jahren war die US-amerikanische Fotografin vor allem als politische Aktivistin in den Schlagzeilen; aktuell wird gerade über ihre Ausstellung „This Will Not End Well“ und ihre Haltung zum Nahost-Konflikt diskutiert. In dem Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ (2022) von Laura Poitras tritt sie vor allem als Mitbegründerin der Aktivistengruppe P.A.I.N. im Kampf gegen die mächtige Pharma- und Kunstmäzen-Familie der Sacklers auf. Der Film „Nan Goldin – I Remember Your Face“ aus dem Jahr 2013 wirft ein anderes Licht auf die Künstlerin und lässt die Tagespolitik eher im Schatten, ohne dabei unpolitisch zu sein. Auch in dem Film von Sabine Lidl geht es nicht unbedingt um das Eigengewicht der Kunst; stattdessen wird Fotografie als Zeuge verschwindender Momente und als Stifter von Gemeinschaft in Stellung gebracht. Ein Film über eine Künstlerin als Summe ihrer zwischenmenschlichen Verbindungen.
Mit stürmischem Charme
Schwarz-weiße Texttafeln mit Namen wie „Guido“ oder „Piotr“ gliedern den nur etwas mehr als einstündigen Film in Kapitel. Jede künstlerische, geschäftliche oder private Partnerschaft öffnet den Blick auf einen Teil ihres Lebens. Hinter jeder Einblendung warten Interviews mit Menschen wie ihrem italienischen Galeristen Guido Costa, dem Lyriker Joachim Sartorius oder der Fotografin Christine Fenzl. Sie erzählen von Begegnungen, von Goldins stürmischem Charme und ihrer Art, die Welt mit ihrer Präsenz zu formen. Der Künstler Piotr Nathan hat für eine Ausstellung ihren Körper als Plastik reproduziert und führt Goldin ausgerechnet nach Neumünster. Es ist eben auch ein Film der Kontraste: Die große Künstlerin mal nicht zwischen den Mammutbaum-Säulen des Metropolitan Museum oder unter den organischen Tempelwindungen des Guggenheims, sondern an einem Regionalbahnhof in Schleswig-Holstein.
Es fällt schwer, den kleineren und vor allem genügsameren Film von Lidl nicht mit dem Pathos-Brocken von Laura Poitras zu vergleichen, der so viel mehr will. Goldin muss dort viel verkörpern und symbolisieren, muss Kunst und Aktivismus durch die Tragödien ihrer Biografie eins werden lassen. „I Remember Your Face“ hingegen zeigt eine alte Kulturkämpferin zwischen Schlachten und lässt ihr ein wenig Raum zum Atmen. In dieser Hinsicht ist Lidls Film vielleicht näher an einer Künstlerin, der es nie um das einzelne Porträt ging, sondern immer darum, dem Menschen einen Raum zum Sein zu geben. Natürlich waren ihre Bilder immer auch Entsendungen an all die Verlorenen auf der Welt, mit dem Angebot, anders zu leben. Rettungsversuche für all die menschlichen Echos ihrer Schwester Barbara Holly Goldin, die sich 1965 das Leben nahm, weil die Vereinigten Staaten ihr zu eng und stickig waren.
Queere Gegenentwürfe zum Status quo
Aber der Film vermittelt auch ein Gefühl für die Beziehung zwischen Goldins Blick, ihrer Kamera und den Menschen, denen sie sich verbunden fühlt. Der Film zeigt abwechselnd ihre Bilder und Aufnahmen aus ihrem selten alltäglichen Alltag als Künstlerin: Fotoshootings, Geschirrspülmaschinen einräumen, Archive durchwühlen, ins Krankenhaus gehen, Schokolade essen, rauchen, leben. Das Alternieren der Medien führt dazu, dass immer wieder zwischen ihrer Außen- und Innenwahrnehmung gewechselt wird, zwischen Reportage-Modus und künstlerischer Psychologie. So vermittelt der Film schnell, was genau ihre Kamera mit den Farben und dem Licht macht, wie sie als Künstlerin die Welt sieht. Die Aufnahmen aus ihren Slideshows und Bildbänden formen nostalgisch-queere Gegenentwürfe zum Status quo, Retrotopien der US-amerikanischen Gegenkultur. Was war und was hätte sein können, fließt zusammen.
Das Leben auf ihren Fotografien ist ein Versprechen. Sie zeigen Gemeinschaft und Verbindungen, sie erzählen gleichzeitig von der Verwegenheit der Marginalisierten und den Schutzräumen, die selbst die Mutigsten manchmal benötigen. Wenn die Einsamkeit doch einmal überwiegt, sind die Menschen wenigstens schön, und ihre Trauer bekommt einen ästhetischen Wert. Sie sind mit etwas Höherem verbunden und werden von einem Licht angestrahlt, das aus den kurzzeitig einen Spalt geöffneten Pforten zu einer anderen Welt quillt. Dass Goldin Reliquien sammelt, erscheint naheliegend, wenn man sieht, wie oft sie ihre Freunde heiligspricht.
Im Kontrast zu ihren Bildern erscheinen die Schauplätze des Films, etwa Berlin, Paris oder eben Neumünster, noch grauer und trauriger. Man sehnt sich nach der schummrigen Sinnlichkeit und zornigen Vitalität der Wahlfamilien, die sie mit ihrer Kamera zu Mythengestalten überhöht. Der Film ist lebendiger, wenn er in ihren unruhigen Fotos zur Ruhe kommt, wenn der Stillstand über die Bewegung triumphiert.
Die Kunst vergehender Momente
Fotografie als die Kunst vergehender Momente. Erinnerungskunst, also vielleicht auch eine Kunst-Vergangenheit? In dem Jahr 2013 von „Nan Goldin – I Remember Your Face“, vor Trump-Wahl und Brexit, wirkt Politik wie etwas, auf das man zurückblickt. Kunst verhindert das Vergessen. Nan Goldins Porträts suchen nie nach der Essenz eines Menschen, sondern erzählen von der Mutabilität. Vom werdenden Menschen. Selbst in das Gesicht eines Menschen, den man jeden Tag sieht, kann man sich immer wieder neu verlieben. Es ist nie dasselbe Licht, nie derselbe Tag. In ihren Gesichtern wirken nicht dieselben Erfahrungen.
Manchmal wünschte man sich, der Film wäre ambitionierter und hätte bessere musikalische Begleitungen für die Bilder gefunden. Aber Goldins Kunst braucht den Kontrast zum Ist-Zustand; auf einer Hochzeit trägt nur die Braut weiß. In der letzten Szene des Films legt Goldin eine brennende Zigarette auf das Grab von Marlene Dietrich. „Hier steh ich an den Marken meiner Tage“, zitiert Dietrichs Grabmal den Dichter Theodor Körner. Es ist wohl richtig, über, mit und wegen Goldin zu streiten, denn ohne die Reibung zwischen verschiedenen Bildern von der Welt bleibt vom Menschen am Ende wenig. Kaum mehr als der Rauch einer Zigarette.