Vorstellungen
Filmkritik
Am Anfang ist es nur ein flüchtiger Blick. Ein Tier mit Stacheln auf dem Rücken, ein Igel womöglich. Um was es sich genau handelt, kann Ama nicht erkennen, und ist ihr in diesem Moment auch egal. Sie hat andere Sorgen. Sie versteckt sich in einem Stelzenhaus auf einem Spielplatz vor den Polizisten, die nach ihr suchen und gerade ihre Mutter und ihren jüngeren Bruder festgenommen haben; ihr Vater war nicht zu Hause. Niemals zur Polizei gehen, hat der immer schon gesagt.
Nun ist Ama auf der Flucht und versteht gar nicht so recht, warum. Über das Meer ist sie vor Jahren in die Niederlande gekommen. Sie fühlt sich als Niederländerin, auch wenn ihre Eltern aus dem Senegal stammen. Nur einen Pass hat sie nicht. Kurze Zeit erspäht sie das merkwürdige Wesen noch einmal. Und bei der dritten Begegnung beginnt ihr das Tier zu folgen. Kein Igel, sondern ein Stachelschwein. Und zwar ein riesiges Stachelschwein. Angst hat Ama trotzdem nicht. Sie spricht mit dem Tier, das sie mit seinen großen Augen ansieht und ihr auf Schritt und Tritt folgt – und das offenbar nur sie sehen kann.
Märchenhaft-magische Bilder
Es sind starke, märchenhaft-magische Bilder, die „Das Totemtier & ich“ findet, um über Ama zu erzählen. Ein elfjähriges Mädchen, das plötzlich keine Sicherheiten mehr hat und in einem Fantasietier einen Gefährten findet, der sie begleitet, ihr manchmal – vielleicht auch eher zufällig – hilft und ihr Trost spendet.
Zunächst versucht Ama, ihren Vater zu finden, der sich ebenfalls versteckt hält. Dabei erkennt sie, wer ihr Vater wirklich ist. Verschärft wird die Situation, weil ausgerechnet die Mutter von Amas bestem Freund Thijs als Polizistin auf Ama und ihren Vater angesetzt wird – und nur eine begrenzte Zeit bleibt, bis Amas Mutter und ihr Bruder, im schlimmsten Falle auch ohne ihre Tochter, in den Senegal abgeschoben werden sollen.
„Totem“ beziehungsweise „Mein Totemtier & ich“ verhandelt das brisante politische Thema anhand konkreter Figuren und Schicksale und versucht es so für ein junges Publikum verständlich und erlebbar zu machen. Dies gelingt vor allen Dingen durch die Perspektive von Ama und deren Selbstverständnis. In wenigen Gesprächen wird deutlich, wo Ama sich verortet und wo sie sich zu Hause fühlt – und wo andere Menschen ihr Zuhause sehen. Dennoch zwingt die schreckliche Situation das Mädchen, sich zugleich intensiver mit ihrer Familiengeschichte und Herkunft zu beschäftigen, die sie zuvor immer abgelehnt hatte: Die Gute-Nacht-Geschichten der Mutter? Blöd. Das traditionelle Essen? Eklig.
Ein Leben in Schieflage
Allerdings kommt der Film dabei nicht um Mystizismus herum. Das Totemtier funktioniert noch universell; als weises Bindeglied zwischen Ama und ihrer Herkunft allerdings dient ein alter Griot, der als Obdachloser durch Rotterdam streift und Ama den Weg zu den Traditionen ihrer Familie weist und sie über die Bedeutung des Stachelschweins aufklärt. In solchen Momenten wird ein wenig zu viel darüber gesprochen, was eigentlich schon emotional erfahrbar war. Zumal das Stachelschwein, das nicht durch CGI generiert wurde, sondern eine animatronische lebensgroße Puppe ist und dadurch eine spürbare Haptik erhält, schon als Bild so gut funktioniert und im magischen Denken von Kindern keine Hürde darstellt.
Mit verkanteten Kameraeinstellungen versucht der Regisseur Sander Burger, eine bildliche Entsprechung für Amas Leben in Schieflage zu finden. In den besten Augenblicken sorgt dieses Spiel mit Perspektiven für eine sanfte Irritation, bis der Film es damit übertreibt und nahezu jedes Bild schräg aufgenommen ist, sogar noch dann, wenn eigentlich wieder Hoffnung besteht.
Vor einigen Jahren hat Frederike Migom in „Binti“ eine ganz ähnliche Geschichte erzählt. Über ein Mädchen, das mit seinem Vater auf der Flucht ist, weil sie illegal in Europa leben. „Totem“ ist nicht ganz so wild und verspielt wie „Binti“, sondern eher märchenhaft. Dazu passt das imaginäre Stachelschwein, aber auch die Auflösung. Der Film schlägt sich zunehmend auf die idealistische Seite. Die Polizisten beginnen zu hinterfragen, ob die Abschiebepraxis richtig ist und treffen moralische Entscheidungen. Ein Happy End ist wichtiger als eine realistische, aber deprimierende Entwicklung.
So stellt „Totem“ die Wünsche des jungen Zielpublikums in den Vordergrund und bedient diese. Das lässt die Geschichte aus Erwachsenensicht angesichts des ernsten Themas etwas zwiespältig wirken. Dafür aber gelingt es dem Film, andere Werte zu stärken: Er erzählt über Zusammenhalt, Partizipation und die Möglichkeit, sich gegen fragwürdige Vorschriften aufzulehnen.