- RegieRobert Hofferer
- ProduktionsländerÖsterreich
- Produktionsjahr2024
- Dauer80 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Manche Kinder lehrt das Leben so grausame Lektionen, dass sie vor ihrer Zeit erwachsen werden. Mit sechs Jahren verlor Elisabeth Pollak ihren Glauben. „Mama, es gibt keinen lieben Gott. Wenn es ihn gäbe, wären wir jetzt nicht hier“, erklärte das Mädchen. Da wurde es im April 1943 in einem überfüllten Zug in das KZ Theresienstadt abtransportiert – und schlief auf der oberen Gepäckablage. Elisabeths ältere Schwester Helga und ihre Mutter mussten auch mitfahren. Sie waren Jüdinnen – die Mutter war wegen ihres Mannes zum Judentum übergetreten – und durften im Österreich des „Anschlusses“ nicht mehr in ihrer Heimatstadt Wien wohnen bleiben. Aus Theresienstadt, nördlich von Prag gelegen, waren die tschechischen Bewohner ausgesiedelt worden. Straßen und Häuser wurden zum KZ umfunktioniert – in der Propaganda der Nationalsozialisten hielt es als „Vorzeigelager“ her. In Wirklichkeit war es für die meisten Insassen eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Auschwitz, wenn sie nicht bereits vor Ort an Hunger und Erschöpfung starben.
Das Schicksal der Familie Pollak ist für eine deportierte jüdische Familie außergewöhnlich, denn sowohl Mutter und Töchter als auch der Vater, der nach Auschwitz verschleppt worden war, überlebten die Lager. So fungieren die beiden betagten Schwestern Helga (Jahrgang 1929) und Elisabeth (Jahrgang 1936) in dem österreichischen Dokumentarfilm „Kreis der Wahrheit“ im Jahr 2022 als wertvolle Zeitzeuginnen. Sie haben Berufe erlernt, geheiratet und heißen nun Helga Feldner-Busztin und Elisabeth Scheiderbauer.
Mit viel Klarsicht und ohne Bitterkeit
Meist werden sie einzeln in ihren Wohnungen interviewt und erzählen mit viel Klarsicht, aber erstaunlicherweise ohne Bitterkeit, von ihrem Leben: von Mobbing und Verfolgung in Wien nach 1938, dann von Hunger, Krankheit und Zwangsarbeit im KZ Theresienstadt, von dessen Befreiung durch die Rote Armee und vom schwierigen Neuanfang und dem Wiedersehen mit ihrem Vater in der österreichischen Hauptstadt ab 1945.
Vorangestellt ist dem Film von Regisseur Robert Hofferer ein Zitat des früheren französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac: „Antisemitismus ist keine Meinung, sondern eine Perversion. Eine, die tötet.“ So ist der Tenor des Films von Anfang an klar, und auch im Laufe des Films zweifelt man nicht an den guten Absichten der Filmemacher. Dennoch überzeugt das Konzept des Films, das heutige Kunstschaffende mit einbezieht, kaum. Internationale Künstlerinnen und Künstler wie die Schauspielerin Iris Berben, der Liedermacher Konstantin Wecker, die Liedermacherin Ina Regen, die Performerin Cat Jimenez, der Maler Rob Perez und andere bringen sich auch zu der Thematik ein. Sie deklamieren, singen, malen oder lesen vor. So werden die Erzählungen der Schwestern regelmäßig unterbrochen – durch Beiträge, die für sich genommen durchaus hochwertig sein und ihre Berechtigung haben mögen. Doch durch die Überfülle an Beteiligten und stilistischen Mitteln entsteht ein Werk, das weder Fisch noch Fleisch ist. Neben den Erzählungen der Schwestern und den künstlerischen Darbietungen verwendet der Film zudem 2-D-Animationen, welche die Ausführungen von Helga und Elisabeth künstlerisch und verfremdend zugleich illustrieren. Hinzu kommt ein sich sehr in den Vordergrund spielender Soundtrack aus Gitarren- und Klavierthemen, der stilistisch vollends zur Überfrachtung führt.
Ergänzende Episoden mit wenig Mehrwert
Unterm Strich weisen die ergänzenden Episoden auch deshalb wenig Mehrwert auf, weil man die Arbeit der Künstler nur als kurze Ausschnitte sieht. Zwar sollen ihre szenischen oder handwerklichen Beiträge einen Bezug zum Heute herstellen und als allgemeingültiger künstlerischer Appell gegen jegliche Form von rassistischem oder antisemitischem Hass dienen. Doch die Heldinnen des Films sind die beiden Schwestern, zwei der wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen des Holocausts. Durch sein ständiges Hin- und Herspringen raubt der Film den beiden aber wertvolle Redezeit. Immer wieder gibt es Passagen, bei denen es sich gelohnt hätte, nachzuhaken. So hätte man gerne mehr Details über das Leben in Theresienstadt erfahren, zum Beispiel über die täglichen Kontakte der Schwestern und der Mutter, über ihre Weggefährt:innen oder Peiniger. Auch auf Helgas Wut auf die österreichische Gesellschaft nach dem Krieg hätten die Filmemacher länger eingehen können. Erzählungen können so nicht vertieft werden, was umso bedauerlicher ist, als sie authentisch sind und auch die Gelegenheit gegeben hätten, die Persönlichkeit der Schwestern noch weiter herauszuarbeiten.
Glücklicherweise erfährt man trotz der zahlreichen anderweitigen Einschübe dennoch einiges über sie, ist fasziniert, mit welcher Lebensweisheit und Klarheit sie berichten, wie Elisabeth Ressentiments wie Wut und Hass fremd sind und wie Helga auch am Schicksal ihrer nichtjüdischen Mitschülerinnen – Verluste von Verwandten und Behausungen – nach dem Krieg Anteil nimmt. So entwerfen die Erzählungen der Schwestern ein realistisches Bild der österreichischen Gesellschaft nach dem Krieg und entlarven deren oft bemühtes Opfernarrativ. Wenn sich der Film allerdings im Abspann wieder um Universalität bemüht und dazu bekennt, allen Opfern von Tyrannei gewidmet zu sein, verwässert das wiederum die einzigartigen Erfahrungen der beiden Holocaust-Überlebenden. In diesem Fall hätte man genauso gut einen Film über den Stalinismus, die Franco-Diktatur oder das Mullah-Regime im Iran machen können.
Als Nachtrag sei noch erwähnt, dass Helga Feldner-Busztin nach Ende der Dreharbeiten im Alter von 95 Jahren gestorben ist. Rückwirkend erscheint der Film dadurch noch mehr als Hommage an eine Frau, die sich nie hat unterkriegen lassen und nach dem Krieg als Ärztin und Zeitzeugin Bleibendes geleistet hat.