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Filmkritik
„Manche Leute wollen dich benutzen, manche von dir benutzt werden; manche Leute wollen dich missbrauchen, manche von dir missbraucht werden.“ So singen es die Eurythmics in ihrem Megahit „Sweet Dreams (Are Made of This)“, dessen ultra-eingängige Beats in „Kinds of Kindness“ bereits den Anfangscredits unterlegt sind. Das ist der Stoff, aus dem die süßen Träume sind, fährt der Song fort. Und: „Who am I to disagree?“ – Wer bin ich, dass ich mir das Recht herausnehme, über die sonderbaren Wünsche meiner Mitmenschen, die Quellen ihrer süßen Träume, zu urteilen?
Bizarre Albtraumszenarios
Yorgos Lanthimos ist in seiner bisherigen Karriere nicht unbedingt als ein Regisseur aufgefallen, der gerne süße Träume inszeniert. Eher ist er ein Spezialist für Albtraumszenarien. Seit seinem Debütfilm „Kinetta“ und insbesondere seinem internationalen Durchbruch mit „Dogtooth“ sperrt er seine Figuren wieder und wieder in bizarre Erzählgefängnisse, die von undurchschaubaren Abhängigkeitsverhältnissen und schier unüberwindbaren psychischen Fixierungen gekennzeichnet sind. In seinem jüngsten Streich entwirft er gleich drei derartige Szenarien. Erstens geht es um einen Mann, der sein Leben von einem anderen bis in die Details der Nahrungsaufnahme und der Beischlaffrequenz dirigieren lässt. Zweitens um einen Mann, der glaubt, seine Frau sei nach einem Unfall durch eine Doppelgängerin ersetzt worden. Und drittens um eine Frau, die vergewaltigt wird und deshalb aus dem Sex-Kult, dem sie angehört, verstoßen wird. Das sind, wohlgemerkt, nur die Ausgangssituationen. Es wird im Verlauf aller drei Episoden noch deutlich bizarrer.
Die drei Geschichten hängen nicht miteinander zusammen und tun es dennoch. Die offensichtlichste Verbindung stiften die Schauspieler: Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe, Margaret Qualley und Hong Chau sind in allen drei Episoden zu sehen, die meisten Nebendarsteller nur in jeweils einer. Die fünf zentralen Darsteller tragen in den Episoden jeweils unterschiedliche Namen und haben jeweils unterschiedliche biografische Hintergründe. Aber spielen sie deshalb bereits unterschiedliche Figuren?
Inmitten anonymer Suburbs
Auch die Welt, in der die Figuren platziert werden, ändert sich und ändert sich doch nicht. Man befindet sich zumeist im anonymen Amerika der Suburbs; die wenigen urbaneren Szenen zeigen gleichfalls gesichtslose Hochhausfassaden. Gedreht wurde in New Orleans, doch Südstaaten-Lokalkolorit muss man mit der Lupe suchen. Auch die Filmsprache variiert wenig: dominant sind durchweg weite Einstellungsgrößen und eine vergleichsweise statische Kamera. Die Vorstadtwelt wird in (allzu) saubere geometrische Breitbildmuster gegossen und gelegentlich mit einzelnen, rhythmisch angeschlagenen Klavierklängen punktiert. Es wirkt, als würde Lanthimos weniger drei Geschichten erzählen, als dreimal dasselbe, nicht allzu umfangreiche Spielmaterial durcheinanderwirbeln und schauen, was sich jeweils für Konstellationen ergeben.
Diese Konstellationen laufen durchweg darauf hinaus, die Menschen der Schutzräume zu berauben, die sie sich in bürgerlichen Gesellschaften zu erarbeiten pflegen. Insbesondere Liebe und Partnerschaft oder auch Sexualität werden zu Quellen von Irritationen, weil kein Normalmaß mehr vorhanden ist, an dem sich das Verhalten abgleichen ließe. Wenn zwei befreundete Paare nach der gemeinsamen Mahlzeit den Abend beim Gruppensex ausklingen lassen, erscheint dies den beteiligten Figuren ganz selbstverständlich. Aber folgt daraus, dass eine der beteiligten Frauen auch die neu erwachten kannibalistischen Gelüste des Partners unhinterfragt zu akzeptieren hat?
Im Kern erinnern alle drei Episoden an sozialpsychologische „Was wäre, wenn“-Experimente. Manchmal wirkt es so, als würde der Regisseur am liebsten sowohl seine Figuren als auch die Zuschauer an Messgeräte anschließen, um psychologische und physiologische Reaktionen auf die zahlreichen Trigger aufzuzeichnen, die er im Film platziert hat.
Das Unbehagen am Kontrollkino
Nur sehr gelegentlich gestattet „Kinds of Kindness“ den Figuren, sich von den Versuchsanordnungen zu emanzipieren, in die Lanthimos und sein Co-Autor Efthymis Filippou sie ansonsten gnadenlos einspannen. Am ehesten gelingt dies vermutlich Emma Stones Figur in der dritten Episode. Zwar wird sie im Verlauf der besonders bizarren Handlung unter anderem Opfer einer Vergewaltigung, und anschließend leckt ihr nach einem Saunagang auch noch eine Frau den Schweiß vom Bauch, um zu überprüfen, ob die „bösen Säfte“ noch in ihrem Körper sind (sie sind es, selbstverständlich). Immerhin aber darf Lanthimos’ Lieblingsschauspielerin mit dem äußerst schicken Sportwagen, den sie durch Lanthimos’ Albtraum-Suburbs navigiert, geradezu halsbrecherische Wendemanöver vollführen. Wenn die Reifen quietschen, blitzt in ihren Augen ein Begehren auf, das kein Sex-Kult dieser Welt befriedigen können wird.
Um dem Unbehagen auf die Spur zu kommen, das einen in Lanthimos’ Kontrollkino bisweilen überkommen kann, wobei die beiden deutlich lustbetonteren Emma-Stone-Filme „The Favourite“ und „Poor Things“ zuletzt ein wenig anders funktionierten, lohnt es sich vielleicht, zum „Sweet Dreams“-Song der Eurythmics zurückzukehren. Besonders zur Textzeile „Who am I to disagree?“. Darin steckt nämlich mehr als nur eine bloße moralische Laissez-faire-Haltung, im Sinne von Leben und Leben lassen. Vielmehr kommuniziert sie die Unmöglichkeit einer Außenperspektive. Letztlich sind wir alle im Begehren unserer Mitmenschen impliziert. Wir alle träumen, wir alle werden geträumt. Lanthimos hingegen spürt zwar mit einigem Aufwand den dunklen Trieben nach, die in uns und unserer Gegenwart kursieren. Ins Träumen jedoch kommt man in seinen Filmen selten – weil seine Figuren stets zu sehr Drehbucherfindungen, bloße Papiertiger bleiben. Stur marschieren sie ihrem Schicksal entgegen, ohne sich je unserem Begehren zu öffnen. Allzu schnell verlischt deshalb das Interesse an ihnen, nachdem sie von der Leinwand verschwunden sind.