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Filmkritik
Am Anfang von „Killers of the Flower Moon“ steht das Ende einer Kultur. Auf ihrem Land in Oklahoma wollen die Osage einen rituellen Gegenstand beerdigen, während sie den Anbruch neuer Zeiten betrauern, in denen die Mitglieder ihrer Gemeinschaft eine neue Sprache lernen und sich langsam in der Kultur der Weißen auflösen. Doch dieser Niedergang geschieht anders als gedacht. Draußen, dort, wo die Pfeife beigesetzt wurde, bebt die Erde. Das Licht beginnt zu flackern, eine Ölfontäne quillt aus dem Boden. Die Osage sind gemachte Leute, womit ihr Schicksal endgültig besiegelt ist.
„The chosen people“, verkündet ein Zwischentitel, der an einen alten Stummfilm erinnert oder an eine Wochenshow. Das Volk mit dem reichsten Pro-Kopf-Einkommen weltweit. Wir sind in den 1920er-Jahren und es sind die schwarz-weißen, stummen Bilder des Kinos, mit denen Regisseur Martin Scorsese nachzeichnet, wie die Osage Nation zu Reichtum gelangt und sich die Weißen in ihren Dienst stellen. Vorerst. Scheinbar. Auch später blendet Scorsese Fotografien ein, im Stil schwarz-weißer Porträtaufnahmen, die von dem in Farbe gedrehten Film erkundet werden. Die Vergangenheit wird nicht reanimiert, „zum Leben erweckt“, sondern neu gesehen und durchgesehen, einer Revision unterzogen. Sie wird durchgeblättert wie ein Bildbuch über Geschichte und Kultur der Osage, das von Leonardo DiCaprio irgendwann aufgeschlagen wird. Sie wird nicht geschrieben, sondern gelesen, studiert, gelernt.
Eine perfide Heiratspolitik
Der von DiCaprio gespielte Ernest Burkhart kommt nach seiner Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg ins Land der Osage, in dem sein Onkel William „King“ Hale (Robert De Niro) eine Ranch besitzt. Er lernt die Sprache und Bräuche der Bevölkerung und verliebt sich in Mollie (Lily Gladstone), eine Osage-Frau, die er heiratet. Mollie versteht, dass Ernest „handsome“, aber nicht sonderlich intelligent ist. Blind folgt er seinem manipulativen Onkel, der sich als Freund und Versorger der Osage inszeniert und die Allianz zwischen ihm und Mollie überhaupt erst initiiert hat. Der Plan von King Hale besteht darin, das „Ölgeld“ der Osage durch eine geschickte Heiratspolitik sowie durch eine Reihe von Morden in seine Familie zu lotsen.
Vor diesem Hintergrund spielt Ernest eine ambivalente Rolle. Er liebt seine Frau, aber er beutet auch ihre Leute aus; er überfällt sie, bestiehlt sie, organisiert Morde an ihnen. Irgendwann geht er selbst dazu über, die an Diabetes erkrankte Mollie mit Insulinspritzen zu vergiften. Sein Gesicht bleibt dabei immer ehrlich. Als könnten beide Seiten, Geld und Liebe, gleichermaßen existieren, als würden sie keinen Widerspruch darstellen. Als sei es gar nicht verständlich, warum das ein Problem darstellen soll. Oder warum es irgendwann eines wird. Der Widerspruch liegt offen zutage, wie das Natürlichste der Welt. So sehr, dass darüber niemals ein Wort verloren werden muss.
Diese Widersprüche sind den Filmen von Martin Scorsese nicht fremd. Die Energie seiner einsamen Figuren, ihre Überzeugungen und fixen Ideen, ihre Fantasien und ihr Messianismus trafen ab einem bestimmten Punkt auf eine Reaktion, die in der christlichen Form der Schuld bestehen konnte („Hexenkessel“), im Zweifel („Die letzte Versuchung Christi“), in der Unerreichbarkeit der anderen („Taxi Driver“, „Wie ein wilder Stier“, „Casino“), im Wahnsinn („Aviator“, „Shutter Island“). Diese Widersprüche verstand Scorsese über eine kinematische Dimension. Der italo-amerikanische Filmemacher war immer schon derjenige, der sich mehr als alle anderen für die Geschwindigkeit eines Lebens interessierte (im Rhythmus, der Musik, der Montage, der vorantreibenden Mise en Scène) – und für dessen Ausgebremstwerden. So auch in dem genial-rasanten „The Wolf of Wall Street“ (2013), der wie „Killers of the Flower Moon“ eine große Fabel auf den US-amerikanischen Kapitalismus war. Doch in den Jahrzehnten seither hat sich vieles geändert.
Revision der weißen US-Geschichte
Zunächst ist „Killers“ ein ruhiger, meditativer Film, ähnlich wie die anderen Filme im Spätwerk von Scorsese. Ähnlich wie „Silence“, ein Film über katholische Priester im Japan des 17. Jahrhunderts und eine Allegorie auf das Überleben des Glaubens in schwierigen Zeiten, oder wie „The Irishman“, eine große Reflexion über das Altern der Gangster, die Scorseses frühere Filme bevölkerten. Auch „Killers“ ist auf seine Art eine Gangstergeschichte, eine Fortschreibung der US-amerikanischen Chronik des 20. Jahrhunderts, die sich durch Scorseses Werk zieht. Auch hier gehen die Leute in die Kirche. Die Gangster haben sich nunmehr aber aus dem turbulenten New York der Ostküste in die leeren Prärien des Westens zurückgezogen. Damit sind die Americana des Gangstertums und des Katholizismus mit einem Mal weniger präsent als transparent. Sie scheinen durch den Film hindurch wie das Licht in der Kirche, in der Mollie betet, wie Robert De Niros Augen durch seine Brillengläser, oder wie das Feuer brennender Felder durch die Fensterblenden, hinter denen Ernest Mollie vergiftet.
Der Film ist wie ein Filter, durch den die Geschichte der USA wie ein Licht fällt und gebrochen wird. Als verabschiede sich Scorsese davon, die Geschichte des Landes weiterzuschreiben und zu -filmen. Sie kann nur noch gefiltert, (neu) gesehen, (neu) gelesen werden.
Vor allem aber ist Ernest, gerade im Vergleich zu Belfort aus „Wolf of Wall Street“ und vielen anderen von Scorseses Charakteren, eine blasse Figur. Im Gegensatz zu früher gibt es keinen offenen Gewissenskonflikt, keinen (komischen, pompösen) Kampf mit sich selbst und dem eigenen Glauben, keine zur Schau gestellte Zerrissenheit. Die Widersprüche stehen nicht energetisch gegeneinander, sondern überlagern sich offen und ruhig. Die Ausbeutung geschieht auf natürlichste Weise, sie ist so erdrückend normal und grundlegend, dass neben ihr sogar die Liebe zu den Ausgebeuteten möglich bleibt. So verblasst das Individuum der früheren Scorsese-Filme und sein Antrieb. Kein Glaube, kein Messianismus, keine tiefere Überzeugung leitet die männlichen Hauptfiguren, sondern ihr Eingelassensein in einen (schwarzen, grauen, grünen, erdfarbenen) Grund des Bildes – im Sinne eines Landes und Territoriums, und im Sinne eines historischen Fundaments. Auf diesem Fundament vollendet sich der Siedlerkolonialismus der Weißen im Kapitalismus; auf ihm sind Ernest und Henry nichts als ausführende Instanzen und Fortsetzer eines seit Langem andauernden Genozids.
Eine souveräne Frauenfigur
Ihnen gegenüber steht mit Mollie eine der ersten souveränen Frauenfiguren bei Scorsese. In „Taxi Driver“, „Wie ein wilder Stier“ oder „Casino“ und selbst noch in „The Wolf of Wall Street“ waren die Frauen bei Scorsese der Wirklichkeit entzogene Gestalten, ätherische Kinofiguren, Projektionsflächen, (unerreichbare) Begehrensobjekte der Männer. Lily Gladstone hingegen ist das stille Zentrum des Films. Anfangs sitzen sie und Ernest nebeneinander im Wohnzimmer. Draußen heult der Sturm, während sie ihn auffordert, leise zu sein und dem Wind zu lauschen. Still werden, nicht zu viel reden, nicht zu viel filmen, sich zurückhalten: das ist die Ethik dieses Films, die geprägt wird vom langsamen Rhythmus der somnambulen, diabeteskrank-schläfrigen, immer leicht lächelnden Mollie – und von ihrem körperlichen Zerfall.
Dieser Rhythmus hat nicht nur Vorteile. Bei aller Verteidigung der Kunstform des Kinos und seiner Geschichte, als deren Advokat Scorsese so aktiv wie kaum ein anderer ist, fühlt sich der Film mit seinem aufgeblähten 200-Millionen-Budget oft nach einer komprimierten Serie an, als der er vielleicht besser funktioniert hätte. Der bisweilen konventionellen Mise en scène ist die Bestimmung anzusehen, als Content auf dem Streamingservice des produzierenden Konzerns zu enden, keinem ablenkungsbedürftigen Auge zur Last zu fallen.
Tänze in Form eines Auges
Aber vielleicht gibt es dafür auch einen guten Grund. Scorsese wendet sich mit seinem neuen Film, in dem er mit Robert De Niro und Leonardo DiCaprio erstmals seine beiden großen Stars versammelt, gegen sein eigenes Kino. Mit dem Wechsel von New York in den Westen wechseln wir auch von den Vereinigten Staaten in die Nation der Osage. So ist „Killers of the Flower Moon“ ein Film „nach“ dem Kino (Amerikas und Scorseses), in dem sich das Bild einer Nation in dem Bild, auf dem Land und unter dem Blick der Osage auflöst. Die in der letzten Einstellung von der Erde sich entfernende Kamera verlässt das Land, das nie jenen gehört hat, die sich auf ihm ihre Geschichten erzählt haben, und dabei die Tänze jener einfasst, die nicht aufhören werden, auf ihm ausgebeutet zu werden. Tänze in Form eines Auges.