Vorstellungen
Filmkritik
Vielleicht nahm es seinen Anfang, als die Dirigentin Nina (Maren Eggert) zu lange bei den Proben blieb und ihren auf sie wartenden jugendlichen Sohn Lars (Jona Levin Nicolai) einfach vergaß. Vielleicht begann es aber auch schon früher und hat sich in den Alltag eingeschlichen, der meist hektisch war, ohne die Hilfe des abwesenden Vaters, der in Arbeit unterging und sich nur hin und wieder telefonisch meldete.
Längst ist Nina eine alleinerziehende Mutter. Sie probt mit ihrem Orchester für ein Konzert mit der 5. Sinfonie von Gustav Mahler, das ihre Karriere entscheidend beeinflussen könnte. Doch als Lars in der Schule aus dem Fenster fällt, den Unfall aber wie durch ein Wunder überlebt, gerät Nina zwischen die Fronten. Die Möglichkeit eines Selbstmordversuchs steht im Raum.
Über Klippen und Dünen
Eigentlich müsste sie eine Auszeit nehmen, um herauszufinden, was der Mord an einer Mitschülerin mit dem beunruhigenden Verhalten von Lars zu tun hat. Doch wenn sie beruflich glänzen und ihre Chance auf den Aufstieg wahren möchte, müsste sie ihre mütterliche Fürsorge temporär eher einschränken, als sich von den Proben fernzuhalten.
Hin- und hergerissen, beschließt Nina, fünf Tage auf einer französischen Atlantik-Insel zu verbringen, die sie von Sommeraufenthalten kennt. In dem im Winter verlassenen Ort hofft sie mit ihrem trotzigen Sohn wieder ins Gespräch zu kommen. Die Naturidylle eines Anwesens in einer versteckten Bucht bietet all das, um sich beim Wandern über Klippen und Dünen näherzukommen.
Doch der Plan geht nicht auf, denn es regnet unentwegt, und am stürmischen Strand gibt es vor dem Anderen kein Entkommen. Die Entfremdung entwickelt sich fern der Alltagsrituale zu einer regelrechten Konfrontation. Weder Mutter noch Sohn schaffen es, ihren Gefühlspanzer aufzubrechen. Lieber schweigen sie sich an.
Jede Minute wird genutzt
Lars zeigt außerdem Anzeichen einer Traumatisierung, was in Nina den Verdacht aufkommen lässt, er könnte mit dem gewaltsamen Tod der Mitschülerin etwas zu tun haben, zumal er sich schon vor der Reise aus seinem Freundeskreis zurückgezogen hat.
Maren Eggert spielt die ambitionierte Dirigentin zunächst als verhärtete Karrierefrau, deren Erziehung sich darauf beschränkt, den Sohn zur Schule zu fahren oder ein Mittagessen zu kochen. Jede Minute nutzt sie für ihre Arbeit. Am Tisch sitzt sie mit Kopfhörern und Partituren, weshalb Lars nie eine Chance hat, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Doch je mehr er ihr entgleitet, desto intensiver finden Gedanken und Gefühle Einzug in ihren eng getakteten Tagesablauf, die sie schon lange von sich geschoben hat. Angst kommt auf, sie könnte nie wieder Zugang zu ihrem Kind bekommen.
Lars, bravourös unzugänglich gespielt von Jona Levin Nicolai, macht es ihr in seiner bockigen Art nicht gerade leicht, einen liebevollen Ton anzuschlagen. Sie reagiert genervt, wütend und gereizt, denn alles, wofür sie so hart gearbeitet hat, droht am familiären Konflikt auf einen Schlag zu scheitern. Es dauert eine Weile und bedarf einer existenziellen Zuspitzung, bis Nina ihre Fehlinterpretation bemerkt und ihr distanziertes Auftreten aufgibt.
Keine Geduld fürs Warten
Es ist erstaunlich, wie es Regisseurin Hanna Slak trotz eines überaus langsamen Tempos gelingt, dieses stille Drama um Unachtsamkeit und die Folgen von Liebesentzug mit viel Sinn für minimalistische Körpersprache und Mimik in der Spannung zu halten. „Kein Wort“ zeigt in kleinen, emotional aufgeladenen Szenen höchst eindrücklich, wie leicht eine Mutter-Sohn-Beziehung an ihre Grenze geraten kann, weil ein Telefonanruf stets wichtiger ist als das Warten auf eine Antwort, die von dem Gegenüber unter Zeitdruck erst mühsam gefunden werden muss.
Kunstvoll getragen wird die schmerzhafte Auseinandersetzung von Mahlers Fünfter Sinfonie und den Kompositionen von Amélie Legrand. Dazu gesellen sich die Cutterin Bettina Böhler und die Kamerafrau Claire Mathon, die auf der Atlantikinsel so erhabene wie kühle Bilder entlang der wechselnden Jahreszeiten eingefangen hat. In den langen Einstellungen der kargen Insellandschaft spiegelt sich die Rauheit der Gemüter, die sich aneinander reiben und nicht imstande sind, das Leiden des anderen zu bemerken. Die mitunter gegen den Strich eingesetzte Musik erschafft eine unheimliche Atmosphäre, die bewusst in die Irre führen möchte, wenn man eine Eskalation der schmalen Handlung erwartet, zumal sich die Inselbewohner allesamt abweisend und schroff verhalten.