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Filmkritik
Die Geschworenenpflicht beginnt mit einem Lehrvideo. Wie Volkshochschülerinnen sitzen die vom Gericht beorderten Juror:innen im Klassenzimmer und starren auf einen kleinen Fernseher. Das Bild zeigt die im Wind wehenden Stars and Stripes der US-amerikanischen Flagge. Eine sonore Stimme erklärt die Grundsätze des Geschworenendaseins. Diese müssen alle gehört haben.
Justin Kemp (Nicholas Hoult) kommt in Clint Eastwoods „Juror #2“ als letzter zu der Gruppe hinzu. Hastig heftet er seinen Juroren-Ausweis mit der Nummer 2 an und erfüllt seine Pflicht. Wirklich hier sein will Justin aber nicht. Er lässt seine hochschwangere Frau Allison (Zoey Deutch) zuhause zurück. Nach einer früheren Fehlgeburt blickt sie mit Sorge auf die kommende Geburt und gleichzeitig mit großer Vorfreude auf das gemeinsame Familienleben.
Schuldig. Oder: unschuldig
Vor dem jungen Familienglück steht nur noch der Fall James Sythe. Der soll seine Frau nach einem nächtlichen Streit verfolgt und erschlagen haben. Die Beweise scheinen gegen ihn zu sprechen. Die Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) hält sogar den Prozess für unnötig. Sythe sei schuldig und hätte sich den Prozess aus Gründen der Strafminderung sparen sollen, raunt sie dem Pflichtverteidiger Eric Resnick (Chris Messina) zu, bevor beide den Saal betreten und zwei mögliche Versionen der Wahrheit präsentierten: James Sythe (Gabriel Basso) hat einer unschuldigen Frau das Leben genommen. Oder: James Sythe ist ein unschuldiger Mann.
Justin Kemp sitzt zwischen diesen beiden Versionen – nicht nur als Juror, sondern auch als direkt Beteiligter, wie sich bald herausstellt. Er ist befangen. Denn er allein kennt die Wahrheit. Aber er spricht sie nicht aus. Denn wie sein Anwalt Larry Lasker (Kiefer Sutherland) ihm bestätigt, führt diese Wahrheit – er, ein trockener Alkoholiker, fährt nach einem Ausflug in eine Bar eine Betrunkene an, die versehentlich auf den Highway wandert – ziemlich sicher zu einer Haftstrafe. So versucht sich Justin an einer Mittelposition. Er versucht für die Gerechtigkeit einzustehen, was in diesem Fall die Unschuld des Angeklagten Sythe bedeuten würde, ohne wirklich aufrichtig für sie einzustehen.
Mit performativer Rechtschaffenheit tritt er vor seine Mit-Jurorinnen, spielt seine eigene Version von Henry Fonda in „Die zwölf Geschworenen“. Er erhebt sich und argumentiert leidenschaftlich gegen die in ihrer Fahrigkeit von der Schuld des Angeklagten überzeugte Mehrheit unter den Kolleginnen. Wo ist die Tatwaffe? Wie konnte der einzige Zeuge Sythe im nächtlichen Regen erkennen? Wie passen die Verletzungen zu den Darlegungen der Staatsanwaltschaft?
Die Maske der Rechtschaffenheit
Tatsächlich kann Kemp einige von ihnen auf seine Seite ziehen. Doch seine Einwände sind nichts als Pose. Eine Pose, die in „Juror #2“ an die Stelle der Gerechtigkeit tritt. Justin Kemp bastelt sich eine Ritterlichkeits-Persona, die ohne Eigenverantwortung Scheindiskussionen im Juroren-Hinterzimmer führen kann. Er ist kein Henry Fonda. Er ist kein rechtschaffener Mann. Er ist die Maske der Rechtschaffenheit.
Der Einzige, der zunächst auf seiner Seite steht und überhaupt auf der Seite des Rechts zu stehen scheint, ist der Florist und Ex-Cop Harold (J.K. Simmons): erfahren, streetsmart, rigoros, also nach allen filmischen Maßstäben eine quintessenzielle Clint-Eastwood-Figur. Er erforscht den Fall auf eigene Faust und wird bald als Juror vom Prozess ausgeschlossen. Es bleiben nur jene übrig, die sich wünschen, dass andere Verantwortung übernehmen, damit sie bald und ohne schlechtes Gewissen nach Hause gehen können.
Urteile aus Bequemlichkeit
Gleich zu Beginn der Verhandlung, noch bevor Justin Kemp weiß, dass er befangen ist, versucht auch er sich seiner Rolle zu entledigen, indem er ehrlich erklärt, dass er seine Frau in der Endphase ihrer Hochrisiko-Schwangerschaft unterstützen will. Die Richterin aber erklärt ihm, dass Verhandlungstage keine Minute länger dauern würden als ein 9-to-5-Arbeitstag. Eine beiläufige Bemerkung, in der das ganze Ethos verborgen liegt, das das Courtroom-Drama mit müheloser Eleganz auseinandernimmt: bequem soll die Gerechtigkeit sein und möglichst gut in das eigene Leben passen. Weder Kemp noch seine Mit-Jurorinnen sehen ein, dass sie ihr gutes, bequemes Leben auch nur für ein paar Tage aufzugeben haben. Die vom Staat verpflichteten Männer und Frauen sind in „Juror #2“ kein Lynchmob, sie sind schlichtweg nur nicht interessiert. Sie urteilen nicht aus Überzeugung, sondern aus Bequemlichkeit falsch. Sollen andere die gerechte Strafe aushandeln und dort übernehmen, wo das Jury-Rollenspiel für sie zu Ende ist.
Der Angelpunkt, von dem aus Regisseur Clint Eastwood „Juror #2“ in eine gesamtgesellschaftliche Tragödie verwandelt, ist Kemps Dilemma. Parallel zu seinem Ringen um eine moralische Mittelposition, die nicht existiert, stellt das Drehbuch auf der gesellschaftlichen Ebene Gerechtigkeitsfragen. Für die Staatsanwältin Killebrew ist der Fall ein Karrieresprungbrett, und die Verurteilung des angeblichen Mörders Sythe an ihre Kandidatur als Bezirksstaatsanwältin gebunden. Die Hintergründe der Anklage, die sie vorab nicht geprüft hat, sondern erst im Verlauf der Verhandlung realisiert, geraten zunehmend in Konflikt mit ihrer eigenen Karriere. Persönlich betrachtet, ist ihr Dilemma nicht ganz vergleichbar mit dem von Justin Kemp. Für die Gerechtigkeit müsste sie nur einen eventuellen Karriereknick verkraften, während ihm das Gefängnis droht. Gesellschaftlich aber, und genau darum geht es in „Juror #2“, spielen beide die gleiche Rolle, egal auf welcher Seite der Institutionen sie stehen. Wo jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um für die Gerechtigkeit einzustehen, kann es sie nicht geben.
Es kommt auf den Einzeln an
Auch dort, wo die Eckpfeiler der Demokratie nur ein sprödes Lehrvideo sind, wo der Strafprozess zur nervigen Pflicht verkommt, die so schnell wie möglich abgehakt werden soll, um ins eigene Leben zurückzukehren, muss es jemanden geben, der teilnimmt. Jemand, der sich ab und an erhebt, um die gesellschaftliche Übereinkunft aus den alten Strukturen wieder zusammenzuzimmern, die eine Demokratie vorgibt – bevor alles aus lauter Desinteresse in sich zusammenbricht.
Es ist verblüffend, aber gar nicht so überraschend, dass der 94-jährige Clint Eastwood mit einem souverän inszenierten, komplexen und wirklich guten Film klarstellt, wie schnell das gehen kann.