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Filmkritik
Eine ausführliche Rekonstruktion des Handlungsinhalts könnte bei einem psychischen Film wie diesem irreführen, denn es geht hier weniger um eine Handlungsgeschichte als um eine weit ausgemalte exemplarische Charakter- und Situationsbeschreibung, und zwar der Gesellschaft, des Mannes und der Frau, mit der Fellini sich zu identifizieren scheint. Giorgio, Fachberater ausgerechnet in Public Relations, hat auch den 15. Hochzeitstag mit Giulietta (Giulietta Fellini-Masina) vergessen, während er sich für eine Jüngere interessiert. Die Gleichgültigkeit des Mannes steigert die Unsicherheit der Frau, deren Empfindsamkeit nun das Erinnern an ihre naiv-glückliche, aber auch verängstigte Kindheit belebt. Die Erinnerungen vermischen sich mit den befremdenden Gestalten, Gesichtern und Verhaltensweisen ihrer Umwelt zu mythologisch-traumatischen Visionen und wirken als fortschreitend krankhafte Erscheinungen auf Giulietta ein, bis das Bewußtsein des natürlich-freien Willens und ihrer Eigenständigkeit sie vor der Selbstaufgabe bewahrt.
Fellinis metaphorische Vereinigung von Phantasie und Wirklichkeit, Aussagedetails und formalem Beiwerk gleicht vordergründig einem exotischen Abenteuer für Aug` und Ohr, das zu heiklen Mißverständnissen verführen kann. Der Künstler will die wesentlichen und graduellen Unterschiede und Widersprüchlichkeiten menschlichen Bewußtseins besonders hinsichtlich Gabe und Mißbrauch der Willensfreiheit mit allen Sinnen spüren lassen. Der ästhetische Überschwang an Bildeindrücken zeigt, daß er es nicht mit betont zerebraler Phantasie versucht hat, die man etwa als "Hirngespinste" abtun könnte, aber auch nicht mit psychoanalytisch-intellektueller Methodik; im Gegenteil, er diskreditiert in mehreren Szenen derartige Therapien. Fast rücksichtslos ungeniert berichtet er von den mystischen Verirrungen und von der "geistigen" und sinnlichen Überproduktion der Menschen. Entsprechend stößt das Verständnis auf Schwierigkeiten. Dogmatikern wird der Film zu wenig dogmatisch erscheinen, Psychologen allzu alogisch, esoterischen Snobs nicht "tiefenpsychologisch", d. h. hier nicht modisch genug, vielen gescheiten "Realisten" zu phantastisch. Diese derart von Einfallsreichtum besessene Synthese von Phantastik und Realistik kann nur entweder angenommen oder nicht mitvollzogen werden; sie ablehnen hieße Voreingenommenheit und Intoleranz üben.
Unzählige Bilder sind von unwahrscheinlicher Schönheit, viele aber auch abstoßend unästhetisch, nicht als utopische Bildbegriffe oder surreale Schocks, sondern als wirkliche Alpträume, versuchte Warnungen menschheitlicher Bewußtseins- und Gewissenserforschung. Volle leuchtkräftige und weichzart angedeutete Farben ergeben ein beispielloses Farb-Licht-Spiel, dessen Bilder ineinander verschwinden und verwandelt auftauchen; prähistorische und hypermoderne Menschen, futuristische Mondänschönheiten und sintflutliche Kreaturen erwachsen zu Geistern und umgekehrt. Die ausgeloteten Dimensionen werden unbegreifbar; sie liegen fast jenseits von geschmacklichem Empfinden, denn Geschmackssinn ist an Materie gebunden, Fellinis Film setzt aber Sinn für den immateriellen Gehalt überreicher Phantasie voraus, paradox gesagt: Geschmackssinn der Phantasie (der nur außerhalb gedanklicher und stimmungshafter Verarbeitung wirkt). Es gibt demnach keine Rezepturen für die Begegnung mit diesem introspektiven Film, sondern höchstens Erklärungen, weshalb auch filmsinnige Menschen ihn nicht verstehen, wenn sinnliche und mittels Phantasie abstrahierte Vorstellungen nicht gleichzeitig zur Wirkung kommen.
Deshalb ist es nützlich, wenn man die psychischen Bedingungen, die Lebensgeschichte des Autor-Regisseurs kennt, um die scheinbar überschüssigen Paraphrasen dieses Films nicht irrig deuten zu können oder zumindest nicht völlig ratlos oder aber einfach "begeistert" zu sein. Aber diese Vorbedingung kann nicht zum Einwand werden, aus zwei Gründen: jede Deutung einer tiefwurzelnden künstlerischen Aussage enthält die Möglichkeit des Irrtums; und es ist das Recht, ja die Voraussetzung des Künstlers, sich zunächst selbst darzustellen, freizumachen, sich "auszusenden" ohne psychologische Berechnung der Empfangsfähigkeit und Empfangsbereitschaft des Betrachters. Natürlich ist es ein großes Glück, wenn es dem Künstler gelingt, sich nicht nur zu entäußern, sondern uns Bedingungen mitzugeben, die Aussage über sein Ich und die Menschen seiner Umgebung leichter reproduzieren zu können. Einen solchen idealen Glücksfall bietet Fellini nicht. Besonders hier muß man - wie immer - sich die Mühe machen, danach zu fragen, was der Künstler versucht hat. Niemand kann Fellini dafür tadeln, daß er seine Aufgabe anders gelöst hat, als ein anderer es getan hätte. Wenn wir entscheiden wollen, ob man seine "Giulietta" als Kunstwerk respektieren oder aber als ein weitschweifiges Blendwerk, als Bluff einer künstlichen "Geisterbeschwörung" abtun kann, so stellt sich die entscheidende Frage niemals nach "eher annehmbaren" Ausdrucksformen, sondern nach der Ernsthaftigkeit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit des Autors. Es wäre eine falsche Argumentation, angesichts der unbestrittenen Künstlichkeit der Ausstattung, der Gestalten und Masken dem Werk die Echtheit im Sinne der Stimmigkeit absprechen zu wollen, denn Fellini hat diese Bilder der Künstlichkeit, verdichtet mit Kindheitsobsessionen, nicht absolut erfunden, sondern als künstlich verstellte Wirklichkeit vorgefunden, erlebt. Begegnet nicht auch uns tagtäglich diese entstellt-exzentrische, überzivilisierte, reizüberflutete Welt, die Welt der Protzen und Larvengesichter, des kurzlebigen Vergnügens, der falschen Helfer und Freunde, der gleichgültigen Veräußerlichung und Mitveräußerung alles Innerlichen, der schrankenlosen Enthemmung der Triebe? Diese Welt kann nicht durch "Natürlichkeit", sondern nur durch ihre eigene Künstlichkeit gekennzeichnet werden. Schon deshalb ist es konsequent und Fellinis Vorstellungs- und Darstellungskraft gemäß, wenn er zur künstlerischen Umformung dieser deformierten Welt sich eben gerade der Künstlichkeit, ja auch des perversen Kitsches als Baustoffe und Stilmittel bedient. Gewiß ein gewagter, jedenfalls ein konventioneller, trivialer Versuch, uns auf solche Weise von der Unechtheit dieser vorgefundenen Welt und von der Echtheit seiner Aussage über diese Welt zu überzeugen. Es setzt die Bereitschaft voraus, unsere Kenntnis der Welt bis zur höchst subjektiv ausgedrückten Erkenntnis des Künstlers zu erweitern und in dieser Erkenntnis bewußter werden zu lassen. Dabei liegt es Fellini nicht, bewährte Lösungen zu präsentieren. (Das ist auch nicht immer des Künstlers Pflicht.) Er fragt am Ende, wie es weitergehen kann nach dem verirrten Tun und Nichttun seiner Betrüger und Müßiggänger, seiner Menschen der Gewalt, der Hilf- und Gedankenlosigkeit (vgl. auch "Vitelloni", "Il Bidone", "La Strada", "8 ć"). Mit der Gestalt der Giulietta, die Person und Namen seiner Frau hat, führt er diese bedeutenden Filme fort. Manche werden erstaunt, andere entsetzt sein, daß er in der Bloßlegung seines Ichs, seiner intimsten Erlebnisse und seelischen Beziehungen nun so weit gegangen ist. Persönliche Krisen sieht er aber nicht losgelöst von den Krisenerscheinungen der Umwelt, die persönliche und zwischenmenschliche Fehler nicht entschuldigen, uns aber ihre 2usammenhänge verständlich machen. Da brennen z. B. die Zelte des Zirkus nieder, eines Maskenreigens, den Giulietta all die Jahre auf verschiedenen Ebenen erlebt hat, weil sie eine kindhaft passive Lust am indifferenten "Zuschauen" empfand, anstatt das Leben bewußt und ungezwungen zu gestalten. Dieses Sinnbild enthält auch eine Aussage über die Ehe, eine seelische, moralische Begründung der gleichberechtigten Liebesgemeinschaft, daß diese keine zufällige, selbstverständliche Schenkung ist, sondern ein verpflichtender Anspruch, den sich beide Partner ständig erfüllen müssen. Soweit Fellini solche konkreten Kernfragen durchdringt, gebührt seiner Kunst allerhöchstes Lob, auch wenn er die unermeßliche Weite der gesteckten Ebenen gedanklich nicht immer ganz auszufüllen vermochte. Die Zuspitzung auf einen brisanten Höhepunkt hin bricht ab, der Schluß mag auf manchen enttäuschend wirken, weil er zu viele Handlungsschlüsse offenläßt. Das liegt daran, daß der Überfluß an Imagination des Bewußtseins, des Unterbewußten und des Bewußtwerdens, keiner durchgehenden "Geschichte" bedurfte, die Fellini aber noch zusätzlich erzählen wollte. Man spürt den Film hindurch, daß nur dies ihm Mühe gemacht hat, nämlich zu erzählen, wie sich die Menschen nach drei Zeit- und Bewußtseinsebenen hin orientieren. Wiederholt kritisiert er jene Menschen, die sich nur für das Heute interessieren; vielgestaltig bis zur Abscheu entlarvt er das Geschäft mit der menschlichen Hoffnung, den Rummel mit dem "Wissen um die Zukunft". Seine Anteilnahme gehört dagegen dem Menschen, der aus dem Wissen der Vergangenheit lebt und angesichts der materiellen Vergänglichkeit sich gewissenhaft seiner Bestimmung bewußt ist, alle Zeiten zu überdauern. Fellini sucht den willensfreien, von toten Traditionen befreiten Menschen, der sich von Vergangenheit und Gegenwart löst, um das Dauerhafte, Bleibende, Ewig-Zukünftige anzustreben, und er schafft ihn in der Gestalt der Giulietta, die an der morbiden Gesellschaft nicht teilhat, aber erst in dem Augenblick von den Dämonen der Konventionen und Verführungen verlassen wird, als sie sich nichts mehr vormacht, als sie erstmals, ihrer Würde und Freiheit entsprechend, unabhängigen Schrittes aus ihrem Haus, in dem sie nicht leben kann, herausgeht - aus sich herausgeht und zu sich findet. Aber auch als freier Mensch ist sie nun nicht von Versuchungen frei. Draußen umwerben sie neue vorgebliche "Freunde" als unsichtbare Geister, die bei ihr bleiben möchten. Aber da sie jetzt nicht nur frei, sondern seit je aus ihrer begnadeten Überzeugung heraus gefestigt ist, lassen nun auch diese Stimmen der Versuchung von ihr ab. Der sich zum katholischen Glauben bekennende Fellini geht nicht so weit, seine Erzählung und Situationsbeschreibung mit einem eindeutig christlichen Hinweis zu beschließen. (Auch das ist aber kein Kriterium persönlicher Unwahrhaftigkeit des Künstlers, da der überzeugte Christ dieses Hinweises nicht mehr bedarf.) Trotzdem weicht er nicht in eklektischer oder ängstlicher Weise den aufgeworfenen Fragen aus. Im Gegenteil zeigt er dem Christen unserer Zeit die Aufgabe, auch in der menschlichen Einsamkeit und Verlassenheit nicht zu verzweifeln; als erste Aufgabe deutet er zuvor in der erschreckenden Kälte der verlockenden Schönheit und betäubenden Pracht diesseitiger Künstlichkeit: die menschliche Nähe und Verantwortung muß diese Kälte und Einsamkeit aktiv überwinden. Hierin gründete Giuliettas Versagen, ehe sie zu sich fand. Dieser Film ist daher kein "unchristliches", sondern nur ein ungewohntes gläubiges Hohelied auf Sinn und Würde von Liebe und Verzicht.