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Filmkritik
Der junge Haider spielt im Innenhof eines städtischen Hauses mit drei kleinen Mädchen Verstecken. Mit im Haus befinden sich eine hochschwangere Frau und ein alter Mann im Rollstuhl. Als bei Nucchi die Wehen einsetzen, fährt Haider sie auf dem Motorrad ins Krankenhaus. Sie würde nach ihren drei Töchtern einem Knaben das Leben schenken, haben die Ärzte vorausgesagt. Doch erst als Nucchis Gatte Amanullah im Krankenhaus auftaucht und Haider aufgeregt anherrscht, wieso er ihn nicht als Erstes über die Geburt informiert habe, wird deutlich, dass die Beziehungsverhältnisse in der Familie Rana anders liegen.
Haider ist Nucchis Schwager. Die Kinder – auch das vierte ist ein Mädchen – sind Haiders Nichten. Der alte Rana Amanullah ist sein Vater. Auch Haiders Frau Mumtaz gehört zur Familie. Mumtaz ist praktisch veranlagt, weltoffen und lebenslustig. Sie arbeitet als Kosmetikerin in einem Schönheitssalon. Haider ist seit längerem arbeitslos und kümmert sich zusammen mit seiner Schwägerin um den Haushalt der Großfamilie.
Ein Film über die Liebe
Die Familie Rana wohnt in einem älteren Viertel in der Innenstadt von Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans und Hauptstadt der Provinz Punjab. Die Geschichte, die der Filmemacher Saim Sadiq in „Joyland“ erzählt, handelt von der Liebe. Von der herkömmlichen Form des familiären Zusammenlebens in der patriarchisch geprägten Gesellschaft Pakistans und von anderen, moderneren Beziehungsvorstellungen. Die Handlung verortet sich sozusagen im Graben zwischen den Generationen, aber auch zwischen Hetero- und anders ausgerichteten Personen.
Wie es die Tradition verlangt, feiert die Familie Rana die Ankunft des jüngsten Kindes mit der Schlachtung einer Ziege. Doch die Enttäuschung über das Ausbleiben des Stammhalters liegt in der Luft. Amanullah hat die Rollenverteilung in der Beziehung von Mumtaz und Haider bislang vielleicht nicht goutiert, aber zumindest geduldet. Doch jetzt greift er als Familienoberhaupt durch. Er befiehlt Haider, sich eine Stelle zu suchen. Und er verbietet Mumtaz, außerhalb des Hauses zu arbeiten; dafür bürdet er ihr den Haushalt auf. Und wenn es ihnen irgendwie möglich ist, sollten die beiden endlich versuchen, Kinder zu bekommen.
Wider Erwarten findet Haider durch Vermittlung eines Freundes schnell einen Job – als Background-Tänzer in der Truppe der Transfrau Biba, die in einem exotischen Tanztheater in Lahore auftritt. Tanzen ist zwar nicht Haiders größte Stärke. Doch er ist von Biba fasziniert. Er strengt sich an, trainiert fleißig und kommt Biba, die ihn tänzerisch unter ihre Fittiche nimmt, auch privat allmählich näher. Zuhause erzählt Haider, dass er eine Stelle als Theatermanager gefunden habe; sein längeres Wegbleiben am Abend begründet er damit, dass er vor Ort gebraucht werde.
Im Spiegel der Geschichten
Nur Mumtaz weiß, was Haider wirklich tut. Obwohl es ihr widerstrebt, kümmert sie sich mit Nucchi fortan um den Haushalt und erweist sich auch darin als tüchtig. Und da Haider durch die Arbeit und eine heimliche Affäre mit Biba wie zu erwachen scheint, nimmt auch seine Beziehung mit Mumtaz vorübergehend Fahrt auf. Bald ist sie schwanger und soll angeblich einen Knaben erwarten. Das macht alle glücklich, außer Mumtaz, die sich in ihrer Selbstverwirklichung eingeschränkt und von der Welt und von ihrem Gatten betrogen fühlt. Haider hat ihr vor der Hochzeit etwas anderes versprochen, was er jetzt, seitdem er mehr mit sich selbst beschäftigt ist, vergessen zu haben scheint.
Saim Sadiq ist 1991 in Lahore geboren. Er hat an der Universität von Lahore Anthropologie studiert und an der Columbia University den Master in Filmregie gemacht. „Joyland“ ist sein erster langer Spielfilm. Die Figur von Biba tauchte schon in seinem Kurzfilm „Darling“ (2019) auf. Sie wird in beiden Filmen von Alina Khan gespielt, angeblich die erste Transgender-Person, die in einem pakistanischen Film die Hauptrolle spielt.
In einer Erklärung zum Film schreibt Sadiq, dass er den Stoff von „Joyland“ sehr lange mit sich herumgetragen habe. Dessen fiktive Geschichte war für ihn auch ein Mittel, seinen eigenen Platz „als junger Mann zu erkunden, der nie Mann genug war für eine patriarchische Gesellschaft“. Die Kämpfe, die seine Figuren mit den Vorstellungen von Begehren, Tradition, Männlichkeit, Familie und Freiheit führen, spiegeln seine eigenen Auseinandersetzungen.
Sadiq dringt mit „Joyland“ – der Name steht für einen Vergnügungspark in Lahore, der im Film besucht wird – tief ins Beziehungsgefüge einer (traditionellen) pakistanischen Familie und damit auch in die Wertvorstellungen der pakistanischen Gesellschaft ein. Er tut dies überaus respektvoll, mit großer Achtung vor jeder Person und den Positionen, die diese vertritt. Der gesellschaftliche Diskurs, den der Film führt, ist ausnehmend differenziert, da Sadiq nicht schwarz-weiß malt und auch nicht in Gut und Böse unterscheidet, sondern jede einzelne Person von ihren liebenswürdigen, aber auch kantigen Seiten zeigt.
Zwänge und Regeln
Das Erzähltempo ist flott. Obwohl Haider und Mumtaz kaum private Räume zur Verfügung stehen und Schwägerin und Bruder jeden Abend auch noch eine ihrer Töchter zum Übernachten in ihr Bett legen, finden die beiden immer wieder Raum und Zeit für kurze intime Gespräche oder eine zärtliche Geste. Ihr Umgang miteinander ist freundschaftlich und verständnisvoll; oft verstehen sie sich sogar ohne Worte. Welcher Pakt die freiheitsliebende Mumtaz und den sensiblen Haider zusammenhält, verrät „Joyland“ erst gegen Ende.
Davor gewährt der Film nicht nur Einblicke in den von Zwängen und Regeln dominierten Alltag einer pakistanischen Familie, sondern vermittelt auch ein lebhaftes Bild davon, in Pakistan als bekennende Transfrau oder als queerer Mann durchs Leben zu gehen. Wo Biba sich zu wehren versteht und einiges einstecken kann, ist der von Al Junejo sehr feinfühlig und charmant gespielte Haider das pure Gegenteil.
Doch mehr als die Buhrufe aus dem Publikum und die Missgunst seiner Mittänzer macht Haider das zunehmende Gefühlschaos zu schaffen, in das er gerät. Wo er in der Beziehung zu Biba zuerst zu seiner Homosexualität findet, fühlt er sich später von ihren Plänen zur finalen Transition in seiner Homosexualität vor den Kopf gestoßen. Gleichzeitig gelingt es ihm nicht, Mumtaz in ihrer seelischen Not, welche die neue Schwangerschaft mit sich bringt, zur Seite zu stehen.
Eine verkappte Tragödie
Sadiq erzählt radikal geradlinig und sehr offen. Das verschafft „Joyland“ eine große Unmittelbarkeit, die mit einer emotionalen Achterbahnfahrt verbunden ist. Es gibt wenige Filme, die das Entsetzen und die gleichzeitige Hilflosigkeit über eine Verzweiflungstat so fühlbar werden lassen wie „Joyland“. Tatsächlich ist der Film trotz seiner farbenfrohen Ästhetik und einiger heiterer Szenen keine Komödie, sondern eher ein schreckliches Drama, um nicht zu sagen eine verkappte Tragödie. Sie lässt vom Schicksal einzelner auf die Situation und Befindlichkeit einer ganzen Gesellschaft schließen und verfügt somit über eine gewisse gesellschafts- und kulturpolitische Relevanz.
Das mag mit ein Grund für die vielen Auszeichnungen sein, die „Joyland“ auf internationalen Festivals eingesammelt hat. Und es wird auch der Grund dafür sein, dass der Film in Pakistan wegen „höchst anstößigen Inhalts“ zunächst verboten – später dann aber doch freigegeben wurde. In der Provinz Punjab, wo die Handlung spielt, soll er bis heute nicht gezeigt werden dürfen.