- RegieUli Gaulke
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2023
- Dauer100 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Mit 102 Jahren ist Nermin Abadan-Unat um ein paar Jahre älter als die Türkische Republik. Als 2023 das hundertjährige Staatsjubiläum gefeiert wurde, konnte die in Wien geborene Frauen- und Migrationsforscherin als eine der wenigen von ihrer persönlichen Begegnung mit Mustafa Kemal Atatürk berichten. Der Begründer der Republik hatte auf ihre außergewöhnliche Laufbahn zumindest indirekt einen gewissen Einfluss. Fast wäre aus ihr eine „Null“ geworden, wie sich die Akademikerin, die ein Buch von Dostojewski als erste Lektüreerfahrung nennt, in der Dokumentation von Uli Gaulke erinnert. Ihre Mutter hatte das gesamte Vermögen am Spieltisch verpulvert; Nermin Abadan-Unat musste die Schule verlassen. Sie sollte arbeiten gehen und Geld verdienen. Als ihr zu Ohren kam, dass Frauen in der jungen Republik kostenlos studieren dürfen, reiste sie mit 15 Jahren allein in die Türkei; ihre Mutter sah sie nie wieder. Abadan-Unat studierte Jura und Politik und forschte später, nach dem Gastarbeiterabkommen, als erste über die Arbeitsmigration in Deutschland.
Fünf außergewöhnliche Persönlichkeiten
„Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen Geschichte“ interessiert sich für Nermin Abadan-Unat aber weniger aufgrund ihres (oberflächlich skizzierten) Beitrags zur akademischen Forschung. Beachtung findet sie vor allem durch ihren unerschütterlichen emanzipatorischen Willen und ihr Alter. Der Film porträtiert fünf Frauen aus verschiedenen Ländern, die neben ihrem hohen Alter – alle sind mindestens 100 Jahre alt – Beeindruckendes geleistet haben. Nanammal Amma hat ihr langes Leben der unermüdlichen Arbeit als Yogalehrerin zu verdanken, das langjährige Knesset-Mitglied Tamar Eshel kämpfte für Frauenrechte und schleuste während der Nazi-Zeit Juden nach Palästina, Ilse Helbich gab nach dreißig Jahren Eheleben ihre bürgerliche Existenz auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Die Schriftstellerin Haydée Arteaga Rojas, die bereits mit vier Jahren lesen und schreiben konnte, leitete die einzige offizielle Schule für mündliche Überlieferung in Kuba.
Im Film sieht man die Frauen vielfach umringt von Zuhörerinnen und Bewunderern verschiedenen Alters, bei Ehrungen und Geburtstagen. „Wie haben Sie es geschafft, so alt zu werden?“, will ein Kind von Nanammal Amma wissen. Ein Balletttänzer hat Tränen in den Augen, als er Haydée Arteaga Rojas gegenüber bekundet, welch prägende Rolle sie für seinen Lebensweg als (schwuler) Mann und Künstler spielte. Und Tamar Eshel wird gar als „Wonder Woman der Knesset“ gepriesen.
Eher lose zeichnen sich in dem aneinander gestückelt wirkenden Porträtfilm zwischen den Frauen aus Kuba, Israel, Österreich, Indien und der Türkei Parallelen ab; im Off leistet zudem die 108-jährige Pianistin Colette Maze mit ihrem Klavierspiel ihren Beitrag. Sie haben vor allem mit struktureller Geschlechterungleichheit zu tun, die je nach geografischem und politischem Raum ganz unterschiedlich zum Tragen kam. Während Nanammal Amma von den Eltern verheiratet wurde, hat Ilse Helbich, die schon im Kindesalter Benachteiligung zu spüren bekam, ihre eigene Unterdrückung eher internalisiert. Erst spät begriff sie, dass die Rolle, die sie ohne Zwang einnahm, sozial geprägt ist. Auch ein früh entwickelter Wissenshunger verbindet die Frauen.
Ein sportliches Konzept
Die gesellschaftlichen und ökonomischen Hintergründe der Protagonistinnen sind dabei so verschieden, dass sich die Lebensgeschichten unmöglich gemeinsam perspektivieren lassen – außer unter einem fragwürdigen Begriff wie „Frauenpower“. Auch die persönlichen Verbindungen zu historischen Zäsuren – Nazi-Zeit, Nahost-Konflikt, kubanische Revolution – können in dem Rahmen gar nicht anders als grob angerissen werden. So wirkt das Konzept der „Jahrhundertfrauen“ am Ende vor allem sportlich.