- Dauer90 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 6
Vorstellungen
Filmkritik
Die Lieder heißen „Die Welt ist klein geworden“, „Kaddish (Der jüdische Soldat)“, „Leybke furt Amerika“, „Sholem baith“, „Das Kind ligt in vigele“, „Vorbei“, „Im Gasthaus zur Goldenen Schnecke“ – oder wie der Titel des Films von Christoph Weinert: „Ich tanz’, aber mein Herz weint“. Die Songs erzählen von Tanz und Geselligkeit, von (verlorener) Liebe, Eifersucht und einer bangen Ahnung. Oder von jüdischen Männern, die in den Krieg ziehen. Und von deren Frauen, die zuhause mit ihren Kindern auf ihre Rückkehr oder zumindest eine Nachricht warten. Sie erzählen auch von der einstmals großen und weiten Welt, die plötzlich klein wie ein Fußball zu sein scheint, und von Amerika als dem Auswanderungsziel, das vielleicht nicht erreicht wird.
Banges Warten klingt in diesen Liedern an, eine tiefe Sehnsucht und in den Melodien nicht selten auch eine tiefe Melancholie. Eine dumpfe Ahnung vom Kommenden, das nicht Gutes verspricht. Doch es ist erst eine Ahnung oder eine klausulierte Botschaft, von jemandem, der vielleicht etwas mehr weiß. Geschrieben, komponiert, gespielt und in Berlin auf Schellack aufgezeichnet wurden die Stücke, bevor sich in der „Reichspogromnacht“ vom 9. November 1938 die dumpfe Ahnung schlagartig in Schrecken und Grauen verwandelte. Die Komponisten heißen, sofern sie bekannt sind, Otto Stransky, Curt Bry, Josef Rosenblatt; die original in Jiddisch und Hebräisch verfassten Texte stammen unter anderen von Nathan Alterman, Kurt Robitschek, Zalman Shneur, Fred Enrikat. Interpretiert und musikalisch begleitet werden sie in den damaligen Aufnahmen von Dora Gerson, Pinkas Lavender, Esther und Jakob Moschkowitz, Max Janowski, Kurt Sanderling, Willy Rosen und Andreas Weißgerber.
Im Schutz der Olympischen Spiele 1936
Von diesem Musik- und Liedgut, das über sieben Jahrzehnte als verloren galt, handelt der Film. Von den 1920er- und vor allem von den frühen 1930er-Jahren, in denen die jüdische Musik eine Blütezeit erlebte und sich nachgerade in Deutschland, wo die jüdische und deutsche Kultur ineinander verschmolzen waren, großer Beliebtheit erfreute. Die von Hirsch Lewin und Moritz Lewin in Berlin geführten Plattenlabel „Semer“ und „Lukraphon“ existierten selbst dann noch weiter, als die die Nazis die Macht bereits an sich gerissen hatten. Und zwar nicht heimlich, sondern unter dem Segel des „Jüdischen Kulturbundes“ und unter der Aufsicht der NS-Regierung. Wie in dem von Christoph Weinert gefertigten Film erläutert wird, wurde dieses Weiterbestehen durch die Olympischen Spiele im Jahr 1936 begünstigt und der damit vom Propagandaministerium bis ins letzte Detail durchdachten Ausländerpolitik. Schon im Sommer 1933 erklärte die NS-Regierung die Olympischen Spiele für Personen jeder „Rasse und Konfession“ offen. Um an Prestige zu gewinnen und die Westmächte zu besänftigen, sah man bis nach den Olympischen Spielen im Kulturbereich von antijüdischen Aktionen ab; in der Presse war Hetze gegen Juden verboten.
So kam es, dass Semer und Lukraphon in Berlin bis 1938 weiterhin Stücke von jüdischen Künstlern und Künstlerinnen aufzeichneten, während im restlichen Deutschland Musikaufnahmen von Juden schon verboten waren. Moritz Lewin löst die Lukraphon im Laufe des Jahres 1938 auf und emigriert über Italien in die USA. Hirsch Lewins „Hebräische Buchhandlung“ im Scheunenviertel wurde hingegen zusammen mit dem rund 4500 Platten, Noten, Texten und Originalmatrizen umfassenden Lager im November 1938 zerstört. Obwohl (jüdische) Emigranten, die Deutschland rechtzeitig verlassen hatten, unter anderem auch Schellack-Platten und Noten mitnahmen, galt der musikalische Schatz sieben Jahrzehnte lang als verschollen.
Das „Semer Ensemble“ und seine Mission
Hier setzt der andere Erzählstrang von „I Dance, But My Heart Is Crying“ an. Er nimmt den Faden mit dem Plattensammler und Jazz-Historiker E. Rainer Lotz auf, der ab 1992 intensiv versuchte, die über die ganze Welt verstreuten Semer-Aufnahmen zu sammeln, was ihm zu großen Teilen auch gelang. Danach fügt sich eines zum anderen. 2011 erschienen die alten Aufnahmen als neue Box mit 11 CDs und einer DVD. Und ein Jahr später beauftragt das Jüdische Museum Berlin den Komponisten Alan Bern, die alten Aufnahmen neu einzuspielen. Das führte zu Gründung der heute unter dem Namen „Semer Ensemble“ bekannten Musikgruppe.
Konzertaufnahmen des Semer Ensembles stehen denn auch im Zentrum des Films. Weinert lässt den einzelnen Stücken viel Raum, um sich zu entwickeln und ihre Wirkung zu entfalten. Alan Bern, der das Ensemble nicht nur dirigiert, sondern selbst auch am Flügel oder mit dem Akkordeon spielt, betont, dass er damit nicht „eine Epoche abschließen, sondern eine Tür in eine frühere Zeit aufstoßen“ wolle. Man dürfe, so Berg, zudem nie vergessen, dass diese Lieder und Stücke aus einer Zeit stammten, in der die Menschen den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und Holocausts noch nicht erfahren hatten.
Weinert lässt Sammler und Historiker, unter anderem auch Ejal Jakob Eisler, der in Jerusalem an verschollen geglaubte Filmaufnahmen des Geigenvirtuosen Andreas Weißgerber gelangte, zu Wort kommen und von ihren Erfahrungen und aus der Geschichte erzählen. Er gibt zudem auch den aus aller Welt stammenden Mitgliedern des Semer Ensembles das Wort, damit sie ihren persönlichen Zugang zu dieser Musik und den Liedern, deren Sprache sie oft nicht mehr sprechen, erklären können. Das Spezielle an der Musik des Ensembles ist, dass die Stimme, die in der jüdischen Musik meist einer Klarinette gehört, von Max Brody auf der Trompete gespielt wird.
Ein souveräner Film
„I Dance, But My Heart Is Crying“ ist ein souveräner Film, der die verschiedenen Erzählungen und (zeitlichen) Ebenen glänzend zusammenbringt und hör- und sichtbar macht, wie jüdische und nichtjüdische Kultur vor dem Zweiten Weltkrieg sich unmittelbar durchdrungen haben. Sofern vorhanden, illustriert der Film die Erzählungen historischer Ereignisse mit animierten historischen Fotografien. „I Dance, But My Heart Is Crying“ ist stimmungsvoll, berührend und reich an Informationen. Vielleicht sogar etwas zu informativ. Denn während der Musik viel Platz eingeräumt wird, fallen manche Erzählungen oft etwas kurz aus. Für Zuschauer mit entsprechendem Vorwissen mag vieles assoziativ zu erschließen sein. Andere aber könnten sich etwas überfordert oder ausgeschlossen fühlen.