- RegieSusanna Fanzun
- Produktionsjahr2023
- Dauer104 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- IMDb Rating7.3/10 (9) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Im Bergell, einem Alpental an der schweizerisch-italienischen Grenze, gibt es in den Wintermonaten nur wenig Sonne; zu steil ragen die Gipfel der Dreitausender wie des Piz Cengalo, des Piz Badile und der Sciora über dem Talboden auf. Aber der Herrgott habe den Bergellern einen Ausgleich fürs mangelnde Tageslicht geschenkt: die Künstlerfamilie Giacometti. So fabuliert es einer der Zeitzeugen, die Susanna Fanzun für ihr dokumentarisches Porträt interviewt. Der bekannteste Spross des Clans, der aus dem Örtchen Stampa im Schweizer Teil des Grenztals stammt, ist Alberto Giacometti (1901-1966), den vor allem seine hoch aufgeschossenen, hageren Bronze-Skulpturen, roh und doch herzzerreißend fragil, zum bedeutendsten Schweizer Künstler des 20. Jahrhunderts gemacht haben.
Die Regisseurin, die aus dem Kurort Scoul im Engadin stammt, dem Nachbartal des Bergell, bettet dessen Schaffen in die Geschichte seiner Eltern und Geschwister ein. Und koppelt all das zurück an die Landschaft, aus der die Giacomettis stammen: eine inspirierende Betrachtung künstlerischen Schaffens nicht (nur) als Werk eines genialischen Individuums, sondern als Frucht einer Lebensgeschichte, die untrennbar mit vielen anderen Geschichten verwoben ist.
In die große (Kunst-)Welt
Es beginnt im Prolog mit einem impressionistischen Reenactment (oder besser einer Reimagination) einer Kindheit im Bergell, wie sie Alberto und seine Geschwister Diego, Ottilia und Bruno, Kinder des Malers Giovanni Giacometti und der Lehrertochter Annetta Stampa, zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebt haben könnten: Kinderhände am rauen Granit in einer Höhle, ein Junge, der über die Wiesen rennt und über die alte, zweibogige Steinbrücke, die bei Stampa den Fluss Maira überspannt, hinein in eine bäuerisch-einfache Stube. Von einem gedeckten Esstisch wird auf ein in warmen Rottönen erstrahlendes Gemälde von Giovanni Giacometti geschnitten („Die Lampe“, 1912), auf dem der Maler seine um den Tisch versammelte Familie porträtiert, dann zu einem schwarz-weißen Foto des Clans.
Das ist eine sinnlich collagierte Einführung in einen heimatlichen Zirkel, von dem aus Alberto Giacometti in die große (Kunst-)Welt strebte, dem er aber gleichwohl stets verbunden blieb. Es ist durchaus bezeichnend, dass Alberto Giacometti, der in Paris eine zweite Heimat fand und es schon zu Lebzeiten zu internationalem Ruhm brachte, nicht an einem illustren Ort wie etwa dem Père-Lachaise-Friedhof begraben liegt, sondern in einem bescheidenen Grab neben diversen anderen Giacomettis auf dem Gottesacker in Stampas Nachbardorf Borgonovo ruht.
Geschichte, Lebenswelt und Werk der Familie
Auch in den Lebensschilderungen, die auf diese Exposition folgen, setzt die Regisseurin immer wieder Naturbilder, kleine, mehr atmosphärische als erzählerische Nachinszenierungen, Eindrücke der Kunstwerke der Giacomettis und Archivmaterial zu einem facettenreichen Mosaik zusammen. Damit lässt sie Geschichte, Lebenswelt und Werk der Familie lebendig werden, gestützt von einem sehr persönlichen Off-Kommentar und Ausschnitten aus Briefen, die sich die Familienmitglieder gegenseitig schrieben.
Zunächst geht es um die Vita des Vaters Giovanni, der einst aus der Enge des Tals floh, das im Unterschied zu dem durch den Tourismus mondän aufblühenden Engadin bäuerisch geprägt blieb. Mit dem Künstler-Kollegen Cuno Amiet studierte er in München Kunst und weitete auf vielen Reisen seinen Horizont. Doch schließlich zog es ihn wieder ins Bergell zurück, wo er beruflich wie privat sein Glück fand – als Familienvater, in dessen Heim seine Kinder in einer kreativen Atmosphäre aufwuchsen, und als anerkannter postimpressionistischer Maler und Grafiker, dem die Landschaft seiner Heimat und seine eigene Familie als Motiv-Fundus dienten.
Später fächert sich die Handlung auf den Spuren der vier Kinder auf, wobei der berühmte Alberto Giacometti zwar den größten Raum einnimmt, die anderen Geschwister aber auch zu Ehren kommen – die Leistungen des Bildhauers Diego Giacomettti, der eng mit seinem Bruder Alberto zusammenarbeitete, die durch ihre Rolle als Frau an Entfaltungsmöglichkeiten ärmere, durch einen frühen Tod aus dem Leben gerissene Ottilia und der Architekt Bruno, der seine baulichen Spuren im Bergell, aber auch in Zürich hinterlassen hat und in den frühen 1950er-Jahren den Schweizer Pavillon der Biennale in Venedig schuf.
Das einzige Mitglied des Künstler-Clans, das der Kompaktheit willen ausgespart wird, ist Giovannis Cousin Augusto, der als Glas- und Wandmaler in der Nachfolge des Jugendstils und Symbolismus tätig war.
Die Anekdoten von Weggefährt:innen
Das Herzstück des Films, vielleicht auch der wichtigste Beweggrund der Filmemacherin, sind jedoch Interviews mit Weggefährt:innen der Giacomettis, die aus erster Hand Anekdotisches über den Clan zu berichten wissen: Susanna Fanzun nutzt die Gelegenheit, die Erinnerungen der betagten Frauen und Männer für die Nachwelt festzuhalten. Und bei diesen handelt es sich keineswegs (nur) um Kenner der Kunstwelt, sondern primär um private Bekannte, die die Menschen hinter den Werken liebevoll und plastisch zutage treten lassen: Freunde aus verschiedenen Lebensphasen und Bekannte aus dem Umfeld der Giacomettis wie etwa eine Nachbarstochter, die bei den Giacomettis ein und aus ging, oder eines von Alberto Giacomettis letzten Modellen, das damals als Serviermädchen im „Piz Duan“ in Stampa arbeitete, aber auch eine befreundete Fotografin.
Kunstgeschichtliche Einordnungen und Deutungen zum Schaffen der Giacomettis liefert der Film nicht. Er erzählt Kunstgeschichte vielmehr facettenreich als Familiensaga und als Reflexion über die Verschränkung von Menschen, ihrer Zeitgeschichte und den Orten, die sie prägten. So macht „Die Giacomettis“ gleichermaßen neugierig auf die Kunst der Familie wie auch auf das Tal, aus dem sie stammt.