- RegieJulia Beerhold
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2024
- Dauer79 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Wer in einem hübschen Einfamilienhaus mit ausladendem Garten, einem Swimming Pool und etlichem Spielzeug aufgewachsen ist und diese heile Welt zudem auf alten Home-Videos beglaubigt sieht, muss eine schöne Kindheit gehabt haben. Mitunter aber trügt der Schein. Eine nach außen glückliche Familienidylle kann im Inneren durchaus Risse aufweisen. Diesem Widerspruch geht Julia Beerhold in ihrem sehr intimen Dokumentarfilm „Hinter guten Türen“ nach und bezieht dabei Familienmitglieder in ihre Suche nach der Wahrheit mit ein.
Beerhold, Jahrgang 1965, ist Schauspielerin und Regisseurin. Gleich nach dem Abitur verließ sie ihr Elternhaus in Nordrhein-Westfalen und zog so weit weg, wie sie nur konnte – nach Spanien. Den Kontakt zu Eltern und Bruder brach sie ab. Dabei hatte es ihr materiell in ihrem Elternhaus an nichts gemangelt. Sie wuchs in einer wohlhabenden westdeutschen Familie auf, die vom bundesrepublikanischen Wirtschaftswunder profitierte. Der Vater war Ingenieur, die Mutter Apothekerin, das selbst entworfene Traumhaus der Familie ab 1967 einzugsbereit.
Schläge mit der Reitgerte
Um dieses Haus geht es gleich zu Beginn des Films. Der Sohn der vierköpfigen Kernfamilie Beerhold, Jens, der Bruder der Regisseurin, will in das Haus einziehen. Seit dem Tod des Vaters und dem Wegzug der Mutter in eine Altersresidenz steht es leer. Julia Beerhold soll sich persönliche Gegenstände und Dokumente abholen, die dort seit Jahrzehnten in Kisten aufbewahrt werden. Doch schon der Anblick des Hauses löst Beklemmungen aus. Es stellt sich heraus, dass die Regisseurin als Kind dort psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt war. Der Vater ohrfeigte sie im Affekt und machte manchmal im Anschluss Fotos von der verstörten Tochter, etwa am Essenstisch, während Mutter und Bruder über sie lachten. Die Mutter dagegen orderte die Kinder in das Badezimmer, wenn sie sich ihrer Meinung nach fehlverhalten hatten und züchtigte sie mit einer Reitgerte.
Heute bemüht sich Julia Beerhold um ein gutes Verhältnis zu ihrer hochbetagten Mutter. Sie besucht die alte Frau, die nicht mehr gut sieht, aber im Kopf noch klar ist, im Altenheim und kümmert sich um sie. Beerhold hat es sich aber auch zur Aufgabe gestellt, die traumatischen Kindheitserlebnisse, die sie bis heute heimsuchen, endlich anzusprechen. Sie möchte endlich frei sein von den Spuren der Geheimnisse, die sie immer noch verfolgen. So fungiert Beerhold als Ich-Erzählerin im Off, aber auch als Protagonistin des Films. Sie filmt selbst oder lässt sich bei den Gesprächen im Elternhaus oder im Altersheim mit der Mutter filmen.
Der Film ist eine Spurensuche der Regisseurin, die um die Perspektiven der Familie und einer Kindheitsfreundin erweitert werden soll. In Gesprächen gibt die Mutter die Züchtigungen und die Gewalt zu. Doch ein Schuldbewusstsein entwickelt sie nicht. Auch ihr Bruder Jens, zu dem die Regisseurin kein enges Verhältnis hat, bittet um Verständnis für die Erziehungsmethoden der Eltern. Er relativiert deren Gewalt und schiebt ihr Verhalten auf den damaligen Zeitgeist. Jens arbeitet am Umbau des Hauses. Er gibt ihm einen neuen Anstrich und eine modernere Einrichtung. Auf die Erinnerungen seiner Schwester hat dies keinen Einfluss. Sogar zu Weihnachten gab es Druck wegen musikalischer Darbietungen sowie Prügel; außerdem wurde Beerhold mehrfach in einer Abstellkammer eingesperrt oder vom Bruder gepiesackt, gequält oder vernachlässigt, als sie offenkundig Hilfe brauchte.
Die Gewalt wird weitergegeben
Es wird immer transparenter, dass die Kinder die Gewalt, die ihnen angetan wurde, an andere weitergegeben haben; der Bruder an die Schwester, diese an ihre beste Freundin. Wer geprügelt wird, prügelt selbst auch. Diese bittere Wahrheit spricht Beerholds ehemals beste Freundin in einem sehr offenen Gespräch mit der Regisseurin an.
Je länger der Film dauert, desto mehr wird klar, welche verheerenden Folgen das gewaltvolle Klima in der Familie auf Julia Beerhold hatte. Sie wurde Opfer sexuellen Missbrauchs und konnte wegen ihrer Scham und einem geringen Selbstwertgefühl nicht darüber reden. Auf diese Weise fungiert der Film auch als eine Art Therapie für die Regisseurin, die sie in der Öffentlichkeit abhandeln will. Damit leistet sie einen Beitrag zur Sensibilisierung für familiären Missbrauch.
Gleichzeitig aber handelt es sich um ein sehr intimes Thema, bei dem Beerhold ihre Familienmitglieder, echte Protagonisten der damaligen Zeit, einbezieht. Das ist ein heikles Prozedere, das auch an Grenzen stößt. Denn eine Kamera löst zwangsläufig Zensurmechanismen in den Gefilmten aus. Die ganze Wahrheit wird auf diese Weise nie angesprochen, abgesehen davon, dass schmerzliche Familienangelegenheiten auch nicht uneingeschränkt in die Öffentlichkeit gehören. Eine vollständige Aufklärung der Geschehnisse ist zum Scheitern verurteilt; mitunter werden sogar persönliche Gräben vertieft, auch wenn manche Missverständnisse und Verdrängung aufgearbeitet werden.
Ein Spiegel der damaligen Zeit
Immerhin funktioniert der Aufklärungs- und Familienfilm auch als Untersuchung der bundesrepublikanischen Gesellschaft nach dem Krieg. Eine Frau wie Beerholds Mutter, die nach Meinung der Regisseurin ihre eigenen Bedürfnisse denen ihrer Kinder immer vorangestellt hat, wäre ohne Kinder womöglich glücklicher gewesen. „Hinter guten Türen“ arbeitet auch heraus, wie gesellschaftlicher Druck auf Frauen oder wie bigotte Moralvorstellungen sich auf das Mikroklima der Familie auswirken konnten. Auch der Einfluss nationalsozialistischer Prägungen in deutschen Familien kommt zur Sprache.
Unterm Strich spricht der Film einige allgemeine und bittere Wahrheiten aus. Beerhold verhandelt den schmerzlichen Zwiespalt, den sie angesichts von elterlicher Fürsorge und schönen Erinnerungen mit dem Trauma von sinnloser Gewalt vereinbaren muss. Denn auch Kinder, denen Gewalt angetan wurde, halten zu ihren Eltern; sie klammern sich an das Positive. Dass Beerhold diesem Widerspruch auf den Zahn fühlt, zeugt von Mut und dem Willen, ihr Leben selbst bestimmen zu können.