- RegieClaudia Richarz
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2023
- Dauer82 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
- IMDb Rating7.4/10 (5) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Mit der Vorstellung von „Ordnung schaffen“ bringt man die Filmemacherin und feministische Aktivistin Helke Sander eigentlich nicht in Verbindung. „Nimmt man Dir das Schwert, dann greife zum Knüppel“, hieß ein programmatischer Text, den sie für die erste Ausgabe der 1974 von ihr gegründeten Zeitschrift „Frauen und Film“ schrieb. Sander ging darin dem systemischen Sexismus in der westdeutschen Filmbranche von verschiedenen Seiten auf den Grund. Und in „Feminismus und Film: ,I like chaos, but I don’t know whether chaos likes me‘“ (so der Titel einer monografischen Publikation, in dem die genannten Texte nachzulesen sind), heißt es: „Der Ansatz, eigene Interessen wahrzunehmen, äußert sich nicht nur in der Destruktion herrschender Ideologien, sondern eben konkret in der Auseinandersetzung am Arbeitsplatz, bei Filmemacherinnen in der Kulturindustrie. Anders gesagt, das Authentischste, was Frauen heute auf allen Gebieten und auch in der Kunst äußern können, besteht nicht in einer Vereinheitlichung und Harmonisierung der Mittel, sondern in deren Destruktion. Wo Frauen wahr sind, machen sie kaputt.“
Ihrer Zeit voraus
Mit über achtzig Jahren macht sich Sander, eine Agentin des Aufruhrs und der Systemstörung, nun ans „Aufräumen“, wie Claudia Richarz ihr Porträt der Filmemacherin betitelt. Aufräumen bedeutet für Sander zunächst Nachlassordnung und Bestattungsvorsorge. Mit der ihr eigenen Mischung aus Pragmatismus und Nüchternheit sieht man sie zu Beginn beim Besuch eines Beerdigungsunternehmens. Kritisch begutachtet sie Särge, erkundigt sich nach alternativen Formen der Grablegung (Bestattungsunternehmer: „Vielleicht sind Sie Ihrer Zeit voraus.“). Sander spricht auch von der inneren Bedeutung des Aufräumens, von Transzendenz.
Doch in „Helke Sander: Aufräumen“ geht es hauptsächlich um eine retrospektive, mit Materialsichtung verbundene Selbstpositionierung. Wiederholt sieht man Sander in ihrer Wohnung auf eine kleine Trittleiter steigen und Kartons aus Regalen und Schränken hervorzerren. Filmrollen, Förderanträge, Bücher, Exemplare der Zeitschrift „Frauen und Film“, Kleidungsstücke, von einer Tante aus dem Krieg „gerettete“ Meissener Porzellantassen und prähistorische Venusstatuen bahnen so eine materielle Spur durch die Stationen ihrer Biografie und Filmografie.
Sanders Werk, obgleich nicht autobiografisch im engeren Sinn, ist von der Politik der ersten Person gründlich durchwirkt. Die Widersprüche zwischen Lohnarbeit, künstlerischer und politischer Praxis, Sorge-Arbeit und der Rolle als Mutter, das alltägliche Erleben, Objekt männlicher Blicke und Projektionen zu sein, die Notwendigkeit feministischen Denkens und Handelns, die eigens erfahrene und in erschreckenden Zahlen bezeugte sexuelle Gewalt: all das findet sich in ihrem Leben wie in ihrer künstlerischen Arbeit wieder. In Filmen wie „Subjektitüde“ (1967), „Silvo“ (1967), „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ (1978), „Eine Prämie für Irene“ (1971), „Die Deutschen und ihre Männer“ (1989) oder „BeFreier und BeFreite“ (1992) treffen von der Nouvelle Vague beeinflusste Erzählmittel und Wirklichkeitsbegriffe auf die von Widersprüchen gekennzeichnete Lebensrealität von Frauen.
Die legendäre „Tomatenrede“
Richarz hat die Filmausschnitte klug gewählt und mit Fotos und Archivbildern verbunden. In ihrer Dokumentation ist auch Sanders historisch gewordener Auftritt auf dem Delegiertenkongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im September 1968 zu sehen. Sander, die zuvor schon mit anderen Frauen den Aktionsrat zur Befreiung der Frauen gegründet hatte, erklärt in ihrer legendären „Tomatenrede“, dass eine gesellschaftliche Veränderung ohne die Befreiung der Frauen nicht möglich sei. Das teils höhnische Gelächter der Männer beantwortete Sigrid Damm-Rüger mit einem Wurf weicher Tomaten gegen die Podiumsvertreter. Es war der Auftakt der neuen deutschen Frauenbewegung. Noch am selben Abend gründeten sich Frauengruppen.
Helke Sander spricht im Film klar und auf den Punkt, aber nie abgeklärt und „aufrechnend“. Ihre Rückschau auf die Ehe mit dem finnischen Schriftsteller Markuu Lahtela und ihr frühes Muttersein hat bei aller Klarsicht einen zärtlichen Ton; auch die Figur ihrer Mutter betrachtet sie in der Ambivalenz zwischen Selbstbehauptung und Unterordnung. Trotz (Selbst-)Historisierung und zeitlichem Abstand ist die Dringlichkeit ihrer damals gegen viele Widerstände umkämpften Anliegen noch immer spürbar, was natürlich auch damit zu tun hat, dass sich diese Anliegen keinesfalls erledigt haben. Gerade ihre Analysen zu den Widersprüchen und Verstrickungen, in denen sich Frauen vielfach wiederfinden (auch als „Komplizinnen“ ihrer eigenen Unterdrückung), haben heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren.
Wie einflussreich und bedeutsam ihre Arbeit auch für jüngere, mit Kunst, politischer Praxis und Publikationsarbeit beschäftigte Menschen ist, lässt sich in „Helke Sander: Aufräumen“ ebenfalls beobachten. Der Film verschleiert dabei auch nicht die „Zeitlichkeit“ von Sanders Feminismus, wenn er einen Moment des Widerstands der nachfolgenden Generation einfängt. Als Sander bei einer Rede die Erfindung von Gender-Sternen diskreditiert, weist sie eine aufgebrachte LGBTQI-Aktivistin zurecht. Vielleicht ließe sich Aufräumen auch dahingehend verstehen, historische Errungenschaften anzuerkennen und dabei Begriffe und Positionen stets beweglich zu halten.
Nicht auf eine Rolle reduziert
Sie wolle nicht auf die Rolle der Feministin reduziert werden, erklärt sie gegen Ende des Films. Die Gefahr einer „allseitig reduzierten“ Filmemacherinnen-Identität ist schnell weggewischt, wenn man in Sanders Arbeiten hineinschaut und die Künstlerin sich im Zusammenspiel von Sprache, Körpern, Gesten, Blicken und Räumen in all ihrer Eigenwilligkeit entfalten sieht.