- RegieNathalie David
- Dauer97 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
Vorstellungen
Filmkritik
Gleich am Anfang listet der Schweizer Künstler Harald Naegeli eine Reihe ausschließlich männlicher Kunstgrößen auf und fügt seinen eigenen Namen schelmisch hinzu. Der „Utopist“, wie sich der Abkömmling einer großbürgerlichen Züricher Familie nennt, wollte sich eigentlich gar nicht an dem ihm gewidmeten Filmporträt „Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich“ beteiligen, erzählt er in seiner geräumigen Düsseldorfer Altbauwohnung der französischstämmigen Filmemacherin Nathalie David. Er sei zu alt. Und nach zwei Darmoperationen und einem Bauchwandbruch könne er nicht mehr auf der Straße sprayen. Sein Kopf sei noch hell, aber die Zeit sei abgelaufen. Wenn die Krebsschmerzen zu groß würden, möchte er selbst entscheiden, wann Schluss sei.
„68 + 80 = Revolution“
So unabhängig hat Naegeli auch in seinem Leben gehandelt. Für den Kapitalismuskritiker kam die 68er-Bewegung gerade recht. Er hinterließ erst politische Gleichungen wie „68 + 80 = Revolution“ auf öffentlichen Wänden, dann minimalistische grafische Darstellungen. Thematisch drehten sich die flüchtigen Botschaften des Felsen- und Höhlenzeichners, so eine weitere Selbstbeschreibung, um Umweltverschmutzung, Chemiekonzerne, Kreuzfahrtschiffe oder Massentierhaltung.
Dafür wurde er in Schweizer Medien als „Vorläufer der Schmierereien“ angegriffen. Joseph Beuys sah das anders. Für den Erfinder des erweiterten Kunstbegriffs machte Naegeli „eine anthropologische, soziale Kunst“. Wegen der er irgendwann mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wurde und 1982 nach Deutschland floh. Zwei Jahre später trat er die sechsmonatige Gefängnisstrafe freiwillig an, ohne den Tatbestand der Sachbeschädigung anzuerkennen. Danach kehrte der Bürgerschreck wieder für Jahrzehnte nach Deutschland zurück.
Wie Naegeli über diese turbulente Lebensphase mit Stolz erzählt, merkt man, dass es ihm nicht nur um politischen Protest gegangen ist, sondern auch um Ruhm. In Düsseldorf waren es zwar nur Geldstrafen, die er wegen seiner Graffiti zu zahlen hatte. Aber in dieser Stadt mit ihrer großen Kunsttradition schien seine avantgardistische Street-Art-Ästhetik zumindest in der Kunstszene die Anerkennung zu finden, die ihm immer vorgeschwebt hat.
Ein querulantischer Werdegang
Die Regisseurin montiert die Kapitel dieses querulantischen Werdegangs zu einer passenderweise eigenwilligen Collage aus Architekturaufnahmen und wenigen Archivbildern. Die Montage gehorcht einem Rhythmus der unberechenbar wechselnden Geschwindigkeiten, während die Kamera dem Porträtierten im Hier und Jetzt an die Plätze seines Wirkens folgt und sich auf seine wechselnden Stimmungen einstellt, wenn er mal mit lautem Pathos über seine Zeit im Gefängnis spricht, mal verhuscht poetisch seine Motivationen erklärt und die kapitalistischen, überbürokratisierten Gesellschaftsstrukturen anprangert.
Seit der Corona-Pandemie wirkte der einst Ausgestoßene wieder in seiner Heimatstadt mit Motiven des Totentanzes, in den Türmen des Zürcher Großmünsters zunächst immerhin mit behördlichem Segen, nur um dann vom Stadtamt attestiert zu bekommen, dass ein Skelett den ihm zugedachten Platz mit einer Zehenspitze überschreite. „Mein Totentanz läutet die globale Katastrophe, die erst noch kommt, ein. Die Übel, die wir kennen, sind nennbar. Die noch kommen, unbekannt. Es gilt den Barbaren, der immer wieder aufsteht, in Schranken zu halten! Die Kunst ist dabei das beste Mittel!“, so Naegelis Reaktion.
„S isch wie en Naht“
Der Stiftungsrat des Kunsthauses entfernte trotzdem das tanzende Skelett, während die Stadt Zürich „seinen Sprayer“ im September 2020 mit dem Großen Kunstpreis für sein Lebenswerk ehrte. Zeitgleich verklagte ihn der Kanton. Eine Posse? „Meine Figuren provozieren die Menschen zum Nachdenken oder Wegputzen“, spottet Naegeli zum Schluss. Die Sängerin Sophie Hunger schließt sich ihm mit ihrer musikalischen Hommage „Ballade vom Sprayer“ an: „S isch wie en Naht. En Riissverschluss. En Notusgang. En Wäg ad Luft.“