- RegieAzra Deniz Okyay
- Dauer90 Minuten
- GenreDrama
- Cast
- TMDb Rating4.3/10 (3) Stimmen
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Filmkritik
In Istanbul ist der Strom ausgefallen. Die Nachrichten im Radio berichten von Plünderungen und gewalttätigen Demonstrationen, die Werbung danach säuselt von aparten „Triumph“-Wohnanlagen. Gated Communities statt bezahlbare Mieten und Denkmalschutz – Didem wohnt inmitten dieser wilden Sanierung. Dabei ist sie schon lange im Ausnahmezustand angekommen. In ihrem Viertel sind zwielichtige Immobilienhaie unterwegs, die alte und leerstehende Häuser auskundschaften und illegal abreißen. Raşit ist einer von ihnen und redet sich den eigenen Job schön – eine „Neue Türkei“ soll hier entstehen, schöner, besser und effizienter als die maroden Häuser von heute. Von denen besitzt er auch eines, in dem er zu Wucherpreisen Flüchtlinge aus Syrien unterbringt.
Zwischen Altbauten und Betonwüsten
Didem und Raşit sind zwei antagonistische Protagonisten, aus denen Azra Deniz Okyay, die in Paris Film studierte und erste Regie-Erfahrungen als Videokünstlerin und Werbefilmerin gesammelt hat, ein spannungsgeladenes Generationen- und Kiez-Porträt entwickelt. Da sind die anderen Mädchen aus Didems Clique, die gemeinsam an einer Street-Dance-Performance arbeiten und von selbsternannten Sittenwächtern vom Hinterhof verjagt werden, auf dem sie ihre Choreografie einstudieren. Da ist Didems Freund mit seinem American Pit Bull, der sie irgendwann mit einer anderen hintergeht, worauf Didem seine Wohnung zertrümmert und den Hund klaut. Da sind die Kinder auf der Straße, die den Tag zwischen den entmieteten Altbauten von gestern und der Betonwüste von morgen verbringen.
Didem ist immer dabei, und trotzdem dazwischen. Nicht so politisch wie die anderen, aber auch nicht unpolitisch – und stets solidarisch. Als ihre ältere Nachbarin sich ans Steuer eines Drogentaxis setzt, um Geld für ihren Sohn zu verdienen, der im Gefängnis erpresst wird, nimmt sie ganz selbstverständlich auf dem Beifahrersitz Platz. Alltagspartisaninnen wider Willen, die sich in einer dunklen Stadt erratisch zwischen Vergnügungssüchtigen und Polizeisperren hindurchmanövrieren. Und irgendwie zu überleben versuchen.
Die Gentrifizierung frisst ihre Kinder
Eine Dystopie ist „Ghosts“, der 2020 in Venedig bei der Filmkritikerwoche ausgezeichnet wurde, dennoch nicht. Zwingend nahe an den Protagonistinnen, arbeitet die Inszenierung mit Zeitsprüngen, schnellen Schnitten und experimenteller Energie. Die Dunkelheit stromloser Keller wechselt mit optimistischem Gegenlicht – Sonnenstrahlen auf der Seele. Didem, Affit und ihre Freundinnen bewegen sich im selben Hamsterrad wie der Möchtegern-Landlord Raşit.
Die Handkamera bewegt sich federleicht und hammerhart mit den Figuren durch die Straßen einer Stadt, die sich ständig verändert und damit ihren Bewohnern die Luft zum Atmen abschnürt. Kurzzeitig entwickelt „Ghosts“ sogar Thriller-Qualitäten, um dann aber wieder zum punktgenauen Sozialporträt zurückzufinden. Am Ende kommt zumindest Didem zur Ruhe. Sie bewegt sich tanzend von der Leinwand, vielleicht der Freiheit entgegen. Der Schluss ist eine von vielen ikonografischen Szenen, energiegeladen und voll bitterer Sehnsucht. Die Gentrifizierung frisst ihre Kinder.