- RegieCornelia Partmann, Sabine Lamby, Isabel Gathof
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2021
- Dauer98 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
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Filmkritik
Ende Dezember 2022 verurteilte das Landgericht Itzehoe eine ehemalige Sekretärin des NS-Konzentrationslagers Stutthof wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen. Die 97-jährige Irmgard Furchner wurde zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Der Prozess begann am 30. September 2021. An 40 Verhandlungstagen wurde insgesamt acht der zeitweise 31 Nebenkläger:innen gehört, um sich einen Eindruck von den Lebensumstände in Stutthof zu verschaffen.
Für die Dokumentation „Fritz Bauers Erbe – Gerechtigkeit verjährt nicht“ von Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof kam das Itzehoer Verfahren zu spät, doch es fügt sich wie in unter einem Brennglas in die Argumentation des vielleicht etwas konventionell, aber äußerst klar konstruierten Films, der von mehreren ähnlich gelagerten Verfahren seinen Ausgang nimmt.
Hochbetagte treffen auf Hochbetagte
Die Muster gleichen sich: Hochbetagte Angeklagte treffen auf ähnlich hochbetagte Nebenkläger:innen, die sich an viele Jahrzehnte zurückliegende Gewaltverhältnisse erinnern müssen oder diese bestreiten. Mitunter kommt es zu Verurteilungen, wenn der Tod dem Antritt der Strafe nicht gnädig zuvorkommt. Mitunter werden Angeklagte im Verlauf des Prozesses auch für verhandlungsunfähig erklärt und das Verfahren ausgesetzt. Boulevard-Medien verweisen gerne darauf, wie „gnadenlos“ sich die Justiz gegenüber hochbetagten Angeklagten verhalte.
Die Dokumentation „Fritz Bauers Erbe“ beginnt jedoch mit einem Perspektivwechsel und dem nachvollziehbaren Zorn der Nebenkläger:innen, die wie Judith Meisel oder Roza Bloch durchaus empört fragen, warum es 70 Jahre gedauert hat, bis deutsche Ermittler sie nach ihren Erlebnissen in Stutthof befragten. Immerhin erhalten sie nach all den Jahren die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen.
Es geht in „Fritz Bauers Erbe“ um die Aufarbeitung der NS-Verbrechen unter den Bedingungen des demokratischen Rechtsstaates, was einen vielleicht dem Zeitgeist verpflichteten Paradigmenwechsel impliziert. Denn wenn man den Blick auf das Thema historisch weitet, sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. In der Bundesrepublik gab es nach Kriegsende 36.000 Ermittlungsverfahren gegen 170.000 namentlich bekannte Beschuldigte. Prozesse wurden jedoch nur gegen jeden Zehnten geführt. Es ergingen 6.500 rechtskräftige Urteile, 1147 davon aufgrund eines Tötungsdelikts. Das ist sehr überschaubar, aber vielleicht durchaus konsequent, da ja Verbrechen geahndet wurden, die staatlich organisiert oder zumindest staatlicherseits geduldet wurden.
Fritz Bauer und seine Rädchen-Theorie
Hier kommt dann tatsächlich der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ins Spiel, der schon im Zusammenhang mit dem ersten Auschwitzprozess (1963-1965) seine „Rädchen-Theorie“ entwickelte. Nach Bauers Dafürhalten hätte jeder, der in einem Konzentrations- oder Vernichtungslager organisatorisch am Massenmord beteiligt war, wegen Beihilfe angeklagt werden können, weil die Tötungsmaschinerie ohne diese organisatorische Mithilfe zumindest in diesem Umfang nicht zu bewerkstelligen gewesen sei. Doch nach einem Revisionsverfahren galt auch nach 1965 weiterhin der Einzeltatnachweis. Es musste konkret nachgewiesen werden, dass ein Täter X am Tag Y an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Mord begangen hat, was nur mit Zeugen möglich war. Eine schwierige Beweislage, denn – wie es im Film einmal zu lesen ist: „SS-Leute stellten sich nicht vor.“ Zudem galt es, in Auschwitz um des Überlebens willen jeden Augenkontakt zu vermeiden.
In mehreren Exkursen erzählt „Fritz Bauers Erbe“ von den Ermittlungs- und Dokumentationsmechanismen in der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, dessen Archiv nach Möglichkeit ständig aktualisiert wurde, weshalb ein großspuriges „Spiegel“-Interview doch noch zur Eröffnung des Verfahrens gegen Irmgard Furchner führte.
Andere gesellschaftliche Debatten wie etwa um die Verantwortung der Mauerschützen oder das arbeitsteilige Vorgehen des internationalen Terrorismus führten zu einem Revival von Bauers „Rädchen-Theorie“, die das Wissen der Historiker ins Juristische übersetzt: Der Holocaust war nur aufgrund der Vielzahl der Mittäter:innen in diesem Ausmaß möglich.
Auf die Frage nach den Gründen dieses erstaunlichen Paradigmenwechsels präsentiert der Film mehrere Erklärungsansätze. Einerseits könnte das Beharren auf dem Einzeltatnachweis mit der Selbstwahrnehmung der Nachkriegsgesellschaft zu tun gehabt haben. Es gab eine allgemeine Unschuldsbehauptung, ergänzt durch vermeintliches Nicht-Wissen, das beim Nachweis des Gegenteils direkt in den Befehlsnotstand umgemünzt wurde. Auch versuchte man die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen ohne eigens dafür formulierte Gesetze zu bewältigen. Es galt weiterhin das Strafgesetzbuch.
Erst jetzt werden die Opfer befragt
Erst die Veränderung der Erinnerungskultur Anfang der 1980er-Jahre, vielleicht forciert durch die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizäcker am 8. Mai 1985, setzte auf Aufklärung und die Befragung von Zeitzeugen. So fällt auch die Frage, warum diese veränderte Rechtsauffassung, die zumindest aus der Sicht der Opfer ungleich gerechter ist, erst seit einigen Jahren angewandt wird, einer Historikerin vom Münchener Institut für Zeitgeschichte zu.
Anders formuliert: Hätte sich die bundesdeutsche Justiz bereits 1965 Bauers „Rädchen-Theorie“ zu eigen gemacht, hätte dies in die Mitte der Gesellschaft gewirkt und zehntausende Verfahren nach sich gezogen. Mit anderen Worten: Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen ist jetzt einfacher, weil sie keine Konsequenzen mehr hat. In Film selbst führt dies zu der Volte, dass der Verteidiger eines Täters darauf hinweist, dass der Angeklagte bereits 1982 ohne strafrechtliche Konsequenzen als Zeuge zu Stutthof befragt worden sei und ausgesagt habe, wofür er jetzt angeklagt sei: „Mein Mandant kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass die deutsche Justiz es über 74 Jahre nicht geschafft, die Verbrechen der NS-Zeit justiziabel aufzuarbeiten.“
Dass ein Gericht Recht spricht
Was sind die Konsequenzen dieser Nachhilfestunde in Sachen Justizwesen? Nicht die Bestrafung der Täter steht im Vordergrund, sondern eher deren Verurteilung und damit gesellschaftlich der Gedanke der Generalprävention. Für die Nebenkläger:innen geht es gleichfalls nicht um Strafe, sondern vielmehr um das Urteil und den Schuldspruch, wie Roza Bloch ausdrücklich konstatiert. Um die Anerkennung, dass ein deutsches Gericht in dieser Angelegenheit nach all den Jahren Recht spricht.
Am Ende bleibt ein Satz der Staatsanwaltschaft hängen, der sich in dieses Bild fügt: „Bewährung haben die [Richter] nur gemacht, damit er [der Angeklagte] das Urteil annimmt.“ Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen. Insofern ist „Fritz Bauers Erbe“ ein weiteres Puzzleteilchen, das von der erstaunlichen Filmkarriere des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer in den vergangenen Jahren erzählt, der in Filmen wie „Der Staat gegen Fritz Bauer“; „Im Labyrinth des Schweigens“, „Fritz Bauer – Tod auf Raten“ und „Die Akte General“ zum zentralen Gegenstand wurde.