- RegieLivia Theuer
- ProduktionsländerDeutschland
- Produktionsjahr2023
- Dauer80 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Dienstags um zehn Uhr ist Filmladen-Plenum. Jeder darf mitmachen, Geld gibt es keines zu verdienen, dafür aber viele Diskussionen zu bestreiten und hoffentlich auch ein paar neue, horizonterweiternde Erfahrungen zu machen. So startete in den frühen 1980er-Jahren der Filmladen Kassel e.V., eine Filminitiative, die aus einer linken Perspektive neu aufs Kino zu blicken versprach. So oder so ähnlich gibt es auch heute noch viele Initiativen im Filmbereich und in anderen Kulturfeldern. Dass sich seitdem dennoch einiges geändert hat, zeigt „Das Kino sind wir“ von Livia Theuer, ein Film über die Geschichte des Filmladens Kassel.
Was vor allem verschwunden zu sein scheint, ist der direkte Zusammenhang zwischen den Filmen, ihren Sujets und den Kinos, die sie zeigen. Dieser Zusammenhang ist tatsächlich als Dreieck zu beschreiben: Die Mitglieder des Filmladen-Kollektivs sind selbst Aktivisten und Filmemacher. Das Filmladen-Publikum wiederum schaut sich im Filmladen-Kino einen Film über eine ältere Demonstration gegen die geplante Startbahn West des Frankfurter Flughafens an; wenig später findet es dann auf der Nachfolge-Demo wieder zusammen. Film nicht als Massenunterhaltung, aber auch nicht als exklusive Kunst um der Kunst willen, sondern als „soziale Plastik“ im Sinne Joseph Beuys – dieses Schlagwort des enigmatischen Großkünstlers mit Hut taucht gleich mehrmals in „Das Kino sind wir“ auf.
Auch die Filmgeschichte hat einen Platz
Der Aktivismus ist der Aktivismus der neuen sozialen Bewegungen: Umweltschutz, Frauenbewegung der Zweiten Welle, schwul-lesbische Emanzipation, Dritte-Welt-Bewegung. Dadurch ist bereits ein Teil der Spannbreite dessen angezeigt, was im Filmladen auf der Leinwand zu sehen ist: Filme von Frauen, das queere Kino der Zeit, Filme aus Afrika, Lateinamerika und Asien sowie die heute kaum noch rezipierten aktivistischen Filme der Umweltbewegung. Dokumentarische Formen stehen oft im Zentrum. Aber auch die vom Alltagsbetrieb des Mainstreamkinos ignorierte Filmgeschichte hat einen festen Platz im Filmladen.
Die Filmbranche empfing den Filmladen nicht gerade mit offenen Armen. Anfangs arbeiteten die Verleiher nicht mit ihnen zusammen, weil sie Repressionen der Branche fürchteten, aber auch politisch eckt das eine oder andere Programm an, teils sogar beim orthodoxeren Teil der Linken. Dennoch fand das Kino sein Publikum – und begann sich über die Jahre hinweg zu professionalisieren. Neue Säle werden eröffnet, das Programm verlagert sich von aktivistischen Amateurproduktionen hin zu aktuellen Arthouse-Hits. Den alten Spirit hielten bald nur noch gelegentliche Festivals und Sonderprogramme am Leben. Schließlich schlug die Kinokrise zu, und dann auch noch Corona. Wie es weitergeht und wie man vor allem eine jüngere Generation für das Kino abseits der Multiplexe begeistern kann, weiß momentan niemand.
Treut, Ottinger & Pinkus
Diese Geschichte könnte man, mit kleinen Abweichungen und einem oft weniger erfreulichen Ausgang, deutschlandweit anhand dutzender, wenn nicht hunderter Kommunaler Kinos und Off-Kinos erzählen. Die des Filmladens schildert Theuer einerseits mithilfe von Interviews mit diversen Filmladen-Macher:innen; andererseits holt sie aber auch Regisseur:innen vor die Kamera, deren Filme für den Filmladen prägend waren und die sich mit dem Kino bis heute verbunden fühlen.
Monika Treut schwärmt von Zeiten, als die Menschen Kino noch mit Haut und Haaren lebten, Ulrike Ottinger legt Wert darauf, dass man ihre bildgewaltigen und vor allem auch detailversessenen Filme nur auf der großen Leinwand angemessen rezipieren kann. „Das Kino sind wir“ macht so unter anderem Lust darauf, das Werk der Schweizer Regisseurin Gertrud Pinkus wiederzuentdecken. Filmausschnitte aus den Werken von Treut, Ottinger und anderen treten zwischen die Interviewpassagen. Implizit, gelegentlich auch explizit schwingt die Frage mit, wo solche, die Formatierung der Fernsehsender und Förderinstitutionen sprengenden Filme in Zukunft gezeigt werden; und auch die, ob sie überhaupt noch gedreht werden.
„Das Kino sind wir“ ist während der Corona-Pandemie entstanden, zu einer Zeit also, als die Aussichten fürs Kino besonders düster waren und alle Welt davon ausging, dass die Streaming-Plattformen unser aller Schicksal werden. Nun stecken diese selbst in der Krise, ohne dass das Kino davon nennenswert profitiert hätte. Die Ratlosigkeit ist in den letzten Jahren eher noch gewachsen. In einer solchen Situation auf eine Zeit zurückzublicken, in der das Kino sich selbst als Ort einer Gegenöffentlichkeit begriff und diesen Anspruch auch bis zu einem gewissen Grad einlösen konnte, ist naheliegend. Dass dabei gleichwohl an allen Ecken und Enden die Nostalgie-Falle lauert, weiß Livia Theuer sehr wohl; sehr bewusst stellt sie der Parade der alten Reck:innen Stimmen aus der neuen Generation gegenüber.
Möglichst viele Optionen offenhalten
Dem Eindruck, dass die goldenen Zeiten der politisierten Off-Kinokultur vorbei sind, kann man sich dennoch kaum entziehen. Letzten Endes hat wohl jede Kunstform und auch jede Inkarnation des Kinos ihre Zeit, die irgendwann vorbei ist. Die Öffentlichkeit ist inzwischen durchaus wieder politisiert, aber die sozialen Konflikte werden an anderen Orten als im Kino ausgetragen – weniger auch auf den Streaming-Plattformen als vielmehr in den Sozialen Medien und in privaten Chatgroups. Was aber könnten unter diesen Voraussetzungen die zukünftigen Aufgaben des Kinos sein? „Wir sind das Kino“ ist ein Plädoyer dafür, sich zumindest so viele Optionen wie möglich offenzuhalten.