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Filmkritik
Ein heißer Sommertag in Dänemark, die Sonne flirrt über den Getreidefeldern. Aus der Ferne nähert sich ein Mann mit Koffer: Christian, blond, mit weichen Gesichtszügen, das Ohr am Handy. Abrupter Schnitt: Michael, blond, hypernervös, rast den hügeligen Weg entlang. Mit ihm Auto: seine Frau Mette und ihre drei Kinder. Heftige Streitereien. Das Fahrzeug schießt an dem Fußgänger vorbei, legt eine Vollbremsung hin. Unter wüsten Beschimpfungen werden Mette und die Kinder hinausgeschmissen, der Bruder zum Einsteigen gezwungen. Die Handkamera jagt, springt, reißt, daß es einem übel wird. Wie eine drückende Schwüle lastet etwas Unbestimmbares über dem herrschaftlichen Hotel, in dem bis zum frühen Nachmittag eine illustre Festgemeinde eintrifft, um den 60. Geburtstag des Familienpatriarchen Helge zu feiern. Aus Nebensätzen erfährt man, daß sich Christians Zwillingsschwester Linda wenige Monate zuvor hier das Leben genommen hat. Die Gäste beziehen ihre Räume, ruhen sich aus. Helene, die vierte der Geschwister, quartiert sich in Lindas Zimmer ein. Der Beerdigung war sie fern geblieben; jetzt aber drängt es sie, sich dem Schicksal der Schwester zu stellen. Sie findet einen Abschiedsbrief, den sie schreckensbleich in ihrer Toilettentasche verschwinden läßt. Michael reagiert sich an seiner Frau ab, verfällt aber wenig später erneut in cholerische Tobsucht, weil Mette nicht die richtigen Schuhe eingepackt hat. Hinter einer anderen Tür verharrt Christian in Lethargie; Verwandte und Bekannte richten sich her. Die Zeit verstreicht, bis zum Gratulationsständchen in den edlen Speisesaal gerufen wird. Das Fest nimmt seine Lauf.
Thomas Vintenbergs „Dogma ‘95“-Exercitium beginnt mit einem Stakkato der Aggression – und gewährt bis zum ersten klaren Bild – der Schlußeinstellung – kaum eine Verschnaufpause. Von den ersten Sekunden an bedrängen einen die durchgängig grobkörnigen Aufnahmen mit ihrer gewaltsamen Direktheit – und schlagen durch ihre nicht durchschaubare Erzählstrategie doch in Bann. Das Resultat ist Sprachlosigkeit als Ausdruck einer tiefen Erschütterung: Selten haben sich im Kino seelische Verletzungen so hautnah und schmerzhaft mitgeteilt wie in dieser skandinavisch-unterkühlten Familientragödie, deren gewöhnungsbedürftige stilistische Brillanz sich am Ende als konsequente Expression einer vergewaltigten Psyche zu erkennen gibt. Nachdem der erste Gang serviert und die Kristallgläser wieder gefüllt sind, ist es an dem Ältesten, einen ersten Toast auf den Jubilar auszusprechen. Was Christian in leisen Worten zum Besten gibt, läßt die Runde für einen Moment erstarren: eine Anekdote, wie ihn sein Vater als Kind sexuell mißbraucht hat. Ein übler Scherz, finden die Gäste, und versuchen, das Schweigen mit Geselligkeit und dem Verweis auf seine mehrjährige psychiatrische Behandlung zu übertönen. Christians Rückzug aber stellen sich Hotelangestellte in den Weg, die ihn nicht abreisen und auch die Autoschlüssel der Feiernden verschwinden lassen. Sein zweiter Toast, in dem er auch die Mutter als Mitwisserin anklagt, endet in einer Schlägerei; erst als Helene durch einen Trick nach einer Polonaise gezwungen wird, den versteckten Brief ihrer Schwester vorzulesen, die den Tod wählt, weil ihr Vater in ihren Träumen wieder mit ihr schläft, kann sich niemand mehr der brutalen Wahrheit entziehen. Die Eltern treten den Rückzug an. Der betrunkene Michael prügelt wie wahnsinnig auf Helge ein; viele fliehen auf ihre Zimmer; die Geschwister und Angestellten beginnen zögernd zu tanzen. Beim Frühstück taucht Helge wieder auf, bekennt sich zu seiner Schuld und wird des Zimmers verwiesen. Für einen letzten langen Moment klärt sich die Leinwand zum ersten Mal auf.
Der paradoxe Expressionismus dieses radikalen filmischen Realismus ist nach Lars von Triers „Breaking the Waves“ (fd 32 145) erneut eine eindrucksvolle Bestätigung für die künstlerische Potenz des „Dogma ‘95“-Manifestes, mit dem die jungen dänischen Regisseure (zusammen mit Christian Levring und Søren Kragh-Jacobsen) gegen den Mainstream aufbegehren. Daß die zehn „Keuschheitsregeln“ (u.a. keine Action, keine Waffen, keine Genrefilme und keine zusätzliche Beleuchtung oder Filter, Schauplätze statt Sets und Requisiten) nicht viel mehr als ein kreatives Credo und kein engstirniges Schema darstellen, zeigt Vintenbergs souveräner Umgang mit ihnen: Der formale Wagemut des 29jährigen ruht auf einem äußerst präzisen Drehbuch, das mit wenigen Dialogsätzen ein extrem dichtes und vor allem glaubwürdiges Netz an Beziehungen knüpft, und starken Schauspielern, die sich in ihren gewagten Rollen ohne Vorbehalte auf ihren Regisseur verlassen. Der Jury in Cannes 1998 war diese Risikobereitschaft wohl auch deswegen einen Spezialpreis wert, weil sich darin die Chance einer machtvollen Erneuerung des europäischen Kinos ankündigt.