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Filmkritik
Eigentlich wollte Judit (Krisztina Urbanovits) ihrem Gast nur einen Kaffee anbieten. Doch bevor der Geschichtslehrer ihres Sohns Abel (Gáspár Adonyi-Walsh) das Heißgetränk in Händen hält, ist die Gastfreundschaft im Hause Trem in offene Feindseligkeit umgeschlagen. Judit steht hilflos mit dem Tablett in der Hand im Flur und muss mit anhören, wie ihr Mann György (István Znamenák) den Lehrer Jakab (András Rusznák) anbrüllt, ihn einen verdammten linken Hund nennt, der seine Geschichtsdaten nicht kenne und Ungarn ohnehin nur am Boden sehen wolle. Jakab ist kaum überrascht; was habe er von einem gehirngewaschenen Orbán-Anhänger schon anderes zu erwarten. Judit bleibt nur, das Fenster zu schließen, während der Lehrer seine Schuhe anzieht und geht. Den Sohn Abel, mit dem Jakab eigentlich sprechen wollte, trifft der Geschichtslehrer heute nicht mehr. Überhaupt wird er ihn bis zu dessen Nachhol-Prüfung nicht mehr sehen.
Abel hat die mündliche Abschlussprüfung nicht bestanden. Aber darum geht es längst nicht mehr. Plötzlich geht es um die Eckdaten der ungarischen Geschichte, um kleine Anstecker der ungarischen Nationalflagge, wann man diese tragen sollte, wann nicht, und überhaupt darum, wer Patriot ist und wer das Land in den Ruin gestürzt hat.
Ein landesweiter Skandal
Abels Scheitern bei der Abschlussprüfung ist zum Zeitpunkt des Streits längst zum Politikum geworden, das der Film von Gábor Reisz aus allen nur denkbaren Perspektiven einkreist. Da sind die direkt Beteiligten Abel und Jakab, Abels Vater György und dessen Vertraute, die gewissermaßen die zweite Reihe derer bilden, die den Konflikt gerne politisieren möchten, die Journalistin Erika (Rebeka Hatházi), welche die Angelegenheit mit ein bisschen Sensationslust und Stilwillen zum landesweit beachteten Skandal hochschreibt und dann eben noch diejenigen, die mit dem Kaffeetablett in der Hand zwischen all denen stehen, die sich nun anbrüllen und sich Verräter und Hassprediger nennen.
Das Publikum aber gehört nicht zur Fraktion der hilflosen Beobachter:innen. Die Zuschauer kennen die Wahrheit, die für Skandal und Diskurs längst keine Rolle mehr spielt. Denn Familie Trem hat Unrecht. Abel hat seine Prüfung nicht vergeigt, weil seinem linken Geschichtslehrer der Ungarn-Anstecker missfällt; er hat schlichtweg kein Wort herausbekommen. Weder das Zureden seiner Schulfreundin Janka (Lilla Kizlinger), in die er heimlich verliebt ist, die aber nicht so heimlich den Geschichtslehrer Jakab liebt, noch der Druck des Vaters konnten daran etwas ändern, dass Abel keinen Bock aufs Lernen hat. So sitzt er, als die Prüfung beginnt, stumm vor den Prüfern und bekommt weder zur Industriellen Revolution noch zu Julius Caesar einen Satz heraus.
Dass der Geschichtslehrer ihn am Ende der Prüfung nach dem Anstecker fragt, der landesweit am 15. März zum Gedenken an die gescheiterte Revolution von 1848/49 getragen wird, den nationalistischen Fidesz-Anhängern außerhalb des Gedenktages aber als Erkennungszeichen dient, ist die letzte Ausrede, die dem Jungen bleibt. Der Lehrer habe ihm keine Chance geben wollen, weil er ihn für einen Nationalisten halte, erzählt er später dem Vater, der vor Ärger über die vergeigte Prüfung außer sich ist. Dass die kleine Flagge nur aus Vergesslichkeit noch am Jackett hing, verschweigt der Junge ebenso wie sein eigenes Versagen.
Der Vater aber erzählt es dem politisch gleichgesinnten Arzt, der Arzt erzählt es dem Taxifahrer und der erzählt es der Journalistin Erika, die sich die Sache wenig später noch einmal von Abel selbst erzählen lässt. Die Lüge, so unschuldig sie auch angefangen haben mag, wird nun als Politikum ins Leben gerufen, das die Karriere des Lehrers zerstört und genau dort eine Frontlinie zieht, wo jene, die von derartigen politischen Grabenkämpfen profitieren, sie gerne hätten.
Raum für Erkundungen
Dass „Eine Erklärung für Alles“ den Frontverlauf gleich zu Beginn klärt, gibt dem Film Raum für die Erkundung der Umstände. Der Film tanzt entlang der Diskurslinien, zieht elegant Kreise um die gesellschaftliche Eskalationsspirale, um die Eckdaten der Geschichte, die Ungarische Revolution, die Staatsgründung und den Volksaufstand, die man sich von links und rechts gegenseitig an den Kopf wirft. Die Posse kommt ganz ohne digitale Multiplikatoren, ohne ostentative Medienschelte und eben auch ohne die Verteufelung der Beteiligten aus. Alle verdienen Empathie, ob sie richtig oder falsch liegen, ob sie sich rechtskonservativ, liberal oder kommunistisch äußern. Für Gábor Reisz gibt es keine lineare Korrelation zwischen der Aufrichtigkeit seiner Figuren und dem Mitgefühl, das ihnen zusteht. Es gibt nur ein System, das sich davon nährt, dass Widerspruch und Verachtung gleichgesetzt werden. „Eine Erklärung für Alles“ stemmt sich gegen dieses System, das in Ungarn heute den Namen Fidesz trägt.
Abel und sein Vater sind im Unrecht. Und doch sind sie für den Film nicht die Fidesz-Wähler mit Schaum vorm Mund. Sie sind vielmehr der überforderte Sohn und der Vater, der zu viel fordert, seinen Sohn aber in den Momenten, in denen er selbst versteht, dass er zu viel Druck ausübt, in die Arme schließt, ihn so sehr liebt, dass er Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um ihm jede Chance im Leben zu geben. Jeder schützt, was er liebt, jeder findet aus seiner Perspektive einen Weg zum Recht und jeder geht auf seine Art und Weise zu weit. Der Film stemmt sich aus all seinen Perspektiven gegen den Hass und gegen die Eskalationsspirale, die sie hervorbringen.
Jemand muss widersprechen
Dabei ist „Eine Erklärung für Alles“ eben nicht naiver Relativismus. Die Wurzel allen Übels mögen beide Parteien sich gegenseitig zuschieben. Aber nur eine Seite, nur Abel und György sind im Unrecht. Die Wahrheit ist keiner Meinung unterworfen, aber sie lässt eben auch keine Mittelposition zu. Die Tragödie konstruiert Reisz eben nicht aus dem Unrecht, das dem Lehrer Jakab geschieht, nicht aus der harmlosen Lüge, die ein folgenschwerer Skandal wird, sondern über die Idee, dass gute Menschen schlechte Ansichten haben. Niemand sollte sie dafür hassen, aber jemand muss ihnen widersprechen.