Vorstellungen
Filmkritik
Luis ist zehn Jahre alt. Er lebt mit seinen Eltern in Stuttgart und hat einen violetten Rucksack mit einem Einhorn drauf. Seine Mutter Connie (Natalia Rudziewicz) ist freischaffende Architektin; sein Vater Jens (Max Riemelt) fährt Taxi. Mit einer Fahrt durch Stuttgart und Nachrichten aus dem Radio setzt „Es geht um Luis“ ein. Jens scrollt beim Warten auf den nächsten Fahrgast durch die App eines Billiganbieters, der herkömmlichen Taxidiensten das Wasser abgräbt.
Als eine Kundin einsteigt, drückt Jens die App weg. Es ist Connie. Sie kommt von der Arbeit, setzt sich auf den Beifahrersitz, legt ihrer beiden Lieblingssong ein. „Amore mio“ tönt es aus den Boxen, Jens stellt lauter. Sie sind ein Paar, glücklich zusammen in Stuttgart. Man könnte mal wieder aufs Land fahren am Wochenende, sagen sie. Doch da sind Jens’ Einsatzpläne und Connies Entwürfe, die dringend fertiggestellt werden müssen. Außerdem gibt es auch noch Luis, ihren Sohn.
„Ich bin eine vom Himmel gefallene Wolke. Ich bin die Erde zwischen Tag und Nacht, ein einsamer Planet“, schreibt Luis über sich selbst. Vielleicht ist er ein besonderes Kind. Connie und Jens sind sich jedenfalls einig, dass Luis seinen eigenen Weg gehen soll. Sie unterstützen ihn dabei. Doch dann kommt ein Anruf von der Schule. Es gäbe Probleme. Luis’ Rucksack sei zu auffällig; die Eltern sollten ihm bitte einen anderen kaufen. Überhaupt wäre es gut, meint der Schulleiter, wenn sie bei den Elternabenden auch auftauchen würden. Da würde man solches nämlich besprechen.
Freie Zeit ist rar
Jens muss aber vor allem abends, nachts und an Wochenenden arbeiten. Und wenn Connie es irgendwann zur Projektleiterin schaffen will, geht das nicht, ohne sich tüchtig ins Zeug zu legen. Obwohl die beiden alternativen Lebensvorstellungen gegenüber nicht unaufgeschlossen zu sein scheinen, haben sie sich in ein Hamsterrad manövriert, in dem sich alles um Arbeit und Gelderwerb dreht.
Es wäre angebracht, sich mehr um Luis zu kümmern, wirft die Mutter von Jens ihrem Sohn an den Kopf, nachdem sie Luis einmal mehr unverhofft betreuen musste. Sie ist eine von vielen Personen, die in „Es geht um Luis“ bei Jens im Taxi landen. Der Film von Lucia Chiarla ist strikt um Jens’ Taxi herum aufgebaut, um die Fahrten und die dabei geführten Gespräche. Der von Max Riemelt sehr präsent und zunehmend impulsiv gespielte Jens entfernt sich während des ganzen Films nur wenige Meter von seinem Fahrzeug.
Alle anderen Orte und Räume, in denen die Handlung sich jenseits der Leinwand weiterspinnt – die Wohnung der Familie, das Schulhaus, die Taxizentrale, das Krankenhaus – werden nur von außen gezeigt; das sich außerhalb von Jens’ Hörweite abspielende Geschehen wird ausschließlich per Tonspur vermittelt, via Funk und Radio, das neben aktuellen Nachrichten auch Straßenzustandsberichte bringt. Vor allem aber durchs Handy, das Jens rund um die Uhr mit seiner Familie, aber auch mit der Taxizentrale verbindet.
Ausgrenzung, Mobbing und Gewalt
Das ist auf den ersten Blick ein cleveres Konzept für einen Film, der mit Blick auf ein Elternpaar schildert, wie ein Kind allmählich in die Bredouille und zunehmend ernsthaft in Gefahr gerät. Der von Lucia Chiarla sowohl als Regisseurin wie als Drehbuchautorin verantwortete Film baut auf dem Bühnenstück „Das kleine Pony“ von Paco Bezerra auf. Das „Pony“ verweist auf den Fall eines elfjährigen Jungen, der 2014 nach einem Selbstmordversuch in der Notaufnahme eines Krankenhauses in North Carolina landete. Er war ein glühender Fan der Zeichentrickserie „My Little Pony“, hatte einen entsprechenden Rucksack und wurde deswegen gemobbt.
Im Stück wie im Film geht es um Anderssein, Ausgrenzung, Mobbing und Gewalt. Der Fokus wird dabei in beiden Fällen vom Opfer auf die Mitbetroffenen verschoben, auf die für ihr minderjähriges Kind sorgepflichtigen Eltern, die ab dem Moment mitschuldig werden, als sie trotz Hinweisen sich nicht oder zu wenig für ihr Kind engagieren. Auf der Bühne, wo sich das Drama ausschließlich im Wohnzimmer der Familie abspielt und bis zur Entfremdung des Paares innerhalb der eigenen vier Wände steigert, funktioniert das gut. Im Film gelingt das nur bedingt.
Das liegt vor allem an der Verlegung des Handlungsortes ins Taxi. Dessen Innenraum ist zwar auch beengend. Aber ein Auto ist nicht starr an einen Ort gebunden, sondern kann sich durch Zeit und Raum bewegen. Es kann als Schutzraum dienen, bietet sich aber auch als Mittel zur Flucht an. In „Es geht um Luis“ dient das Taxi jedoch primär zur beruflichen Charakterisierung des Protagonisten und, da jeder Fahrgast seine eigene Geschichte mitbringt, als Einfallstor für die Welt.
Tatsächlich steigen im Laufe des Films viele unterschiedliche Menschen zu Jens ins Auto. Doch die wenigen Gespräche, die Jens nicht mit seiner Frau, seiner Mutter oder seinem Chef führt, dienen indirekt alle zur Charakterisierung seines Sohnes. Einmal steigt eine Transperson zu, die auf dem Weg zu einem Date mit Jens flirtet. Ein andermal fährt Jens einen Jugendlichen in die Notfallaufnahme, der nach einem flüchtigen Blick auf den im Kofferraum liegenden Einhorn-Rucksack dreist über die queere sexuelle Orientierung von Jens’ Sohn zu zoten beginnt.
Luis und sein violettes Einhorn
Diese Szene gegen Ende des Films, in der Jens zunehmend außer sich gerät, ist ausnehmend unangenehm. Sie markiert den Punkt, an dem der klug angedachte Film, in dem sich die innerlichen Anspannungen der Protagonisten Schritt für Schritt steigern, zu kippen beginnt. Denn auch wenn die von Natalia Rudziewicz überzeugend gespielt Connie ihre eigenen – konträren – Ansichten und Standpunkte formuliert, geht es in „Es geht um Luis“ vor allem um Jens. Wie es Luis derweil ergeht, erfährt man nur indirekt. Und weil Luis auf der Leinwand nie zu sehen ist, muss man sich als Zuschauer von diesem Kind, das sagt, dass das Einhorn es beschütze und die anderen Kinder bloß eifersüchtig seien, weil er frei sei, sein eigenes Bild machen.