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Filmkritik
Der zwölfjährige Gadeha (Yassine Tormsi) lebt mit seiner mittellosen Mutter Borkana (Dorsaf Ouertatani) und seiner kleinen Schwester in einem armen Viertel der tunesischen Hafenstadt Hammamet. Sein Vater ist schon vor Jahren mit einem Schlepperboot in Richtung Italien aufgebrochen; seither hat die Familie nichts mehr von ihm gehört. Eines Tages vergnügt sich Gadeha mit zwei gleichaltrigen Freunden am Strand. Als einer der beiden ein Smartphone stiehlt und alle drei Hals über Kopf fliehen, wird Gadeha von einem Auto angefahren. Im Krankenhaus kann die Mutter die Behandlung nicht bezahlen. Zum Glück hilft eine wohlhabende Familie aus, deren Sohn Oussama (Ahmed Zakaria Chiboub) ebenfalls in der Klinik behandelt wird. Die Eheleute Malika (Chema Ben Chaabane) und Moez (Jamel Laroui) übernehmen die Kosten.
Irgendetwas stimmt hier nicht
Als Gadeha wieder zu Bewusstsein kommt, hat sich sein Leben gravierend verändert. Seine Mutter und Schwester sind ins weitläufige Haus der Gastfamilie gezogen, die Gadeha wie einen weiteren Sohn behandelt. Sie zahlt sogar das Schulgeld für eine Privatschule. Als Oussama nach einer Nierentransplantation aus der Klinik nach Hause kommt, freunden sich die beiden Jungen an. Oussama bringt Gadeha das Bogenschießen bei, dafür nimmt er Oussama mit an den Strand. Doch nach und nach merkt Gadeha, dass irgendetwas hier nicht stimmt.
Yassine Tormsi verkörpert die ausgelassene Verspieltheit eines Jungen, der mit zwei Kleinkriminellen auf dem Moped singend am Strand entlangfährt, ebenso glaubhaft wie den tiefen Schmerz über den Verlust des Vaters, der die Familie allein zurückgelassen hat. Tormsi spielt auch die zentrale Verstörung von Gadeha, dessen Rufname auf Arabisch „Flamme“ bedeutet, mit erstaunlicher Reife und Prägnanz. Auf dem Gesicht des Laiendarstellers lassen sich die widerstreitenden Gefühlsregungen von der ersten leisen Ahnung bis zur bitteren Gewissheit ablesen: Seine Mutter hat einer Organspende zugestimmt und im Gegenzug dafür viel Geld und Obdach für ihre Familie erhalten.
Auch Ahmed Zakaria Chiboub meistert die Herausforderung seiner schwierigen Rolle überzeugend. Mit seinem natürlichen Spiel macht er glaubhaft, wie Oussama darunter leidet, dass seine Eltern über seinen Kopf hinweg entschieden haben. Denn er wusste nichts von ihrem Plan und wollte nicht, dass sein neuer Freund nun darunter leiden muss. Mit ihren Leistungen können die beiden Kinderdarsteller mit den professionellen erwachsenen Schauspielerinnen und Schauspieler problemlos mithalten.
Ohne Mitsprache der Kinder
Dass die beiden Jungen so schnell eine tiefe Freundschaft schließen, liegt auch daran, dass sie vieles gemeinsam haben. Gadeha und Oussama finden wechselseitig aneinander nicht nur eine Art Ersatzbruder; sie wurden beide auch von ihren Eltern übergangen und auf tragische Weise enttäuscht. Indem sie das Beste für die Heranwachsenden wollten, haben die Erwachsenen sie zum Opfer ihrer Entscheidungen gemacht.
Das Motiv der Nierentransplantation erinnert an das US-Filmdrama „Beim Leben meiner Schwester“ (2009) von Nick Cassavetes, in dem eine Familie die jüngste Tochter als Organspenderin für ihre ältere krebskranke Schwester bestimmt. Während bei Cassavetes das Mädchen aber gegen die unfreiwillige Spende rebelliert, wird Gadeha in „Ein neues Leben“ vor vollendete Tatsachen gestellt.
Der tunesische Regisseur Anis Lassoued erzählt in seinem Spielfilmdebüt konsequent aus Sicht der Minderjährigen und geht sehr behutsam mit der heiklen Thematik der kommerziellen Organtransplantation um. So erfährt man in einer Schlüsselszene, dass Gadeha weiß, dass seine Mutter aus ihrer materiellen Notlage heraus die lukrative Vereinbarung über die Transplantation getroffen hat, die für Oussama womöglich lebensrettend sein könnte.
Aus der Sicht des Protagonisten
In stummen Bildern und kurzen Dialogen zeigt der Film die allmähliche Verhärtung Gadehas, der sich enttäuscht und seelisch verletzt in sich zurückzieht und mit niemandem mehr sprechen will – weder mit Oussama noch mit seiner Mutter, gegen die er sogar aggressiv wird. Die Inszenierung meidet explizite Diskurse über die ethischen Implikationen der Entscheidung der Mutter. Dramaturgisch ist das nachvollziehbar, auch wenn man sich eine intensivere Auseinandersetzung mit dem moralischen Dilemma der Mutter gewünscht hätte.