- RegieChristoph Schaub
- ProduktionsländerSchweiz
- Produktionsjahr2024
- Dauer89 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 0
- IMDb Rating6.4/10 (19) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Ein Refugium sollte es sein, versteckt und doch durchlässig für die Umgebung. 1929 baute die irische Designerin Eileen Gray zusammen mit Jean Badovici, dem Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift „L’Architecture Vivante“, eine Küstenvilla in Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’Azur. Ihr Name, E.1027, ist eine kryptische Kombination aus ihren Namen. Anders als der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier, der an der Idee einer „Wohnmaschine“ arbeitete, die sich Jahre später in den funktionalen „Unités d’habitation“ realisieren sollte, hatte Gray einen anderen Begriff von Raum. Sie deutete ihn an erster Stelle über seine taktilen Beziehungen zum Körper: „Das Haus ist … eine Hülle, die einen sanft umgibt, vor der Umwelt schützt. Das Haus ist auch unsere Verlängerung, unsere spirituelle Erweiterung, unsere Befreiung. Das Haus ist ein Körper.“
In „E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“ bekommt man tatsächlich ein Gefühl dafür, was das bedeutet: ein Haus als organisches, beseeltes Gebilde. Die am Originalschauplatz gedrehten Bilder, in die Beatrice Minger und Christoph Schaub eine Schauspielerin und einen Schauspieler hineinsetzen und darin „sein“ lassen, atmen und strahlen dabei die Ruhe eines überaus entspannten Körpers aus. Man möchte sich sofort in diesen Räumen aufhalten.
Ein Schaustück um Macht und Konkurrenz
E.1027, Grays erste Arbeit als Architektin, ist jedoch nicht nur die Geschichte eines stillen Meisterwerks, das für eine andere, sensitive Moderne steht, sondern auch die einer der ungeheuerlichsten Überschreibungen in der Baukunst des 20. Jahrhunderts. Nachdem Gray ihrem Freund, Arbeits- und zeitweiligen Lebenspartner Badovici die Villa überlassen hatte, um in ihrem zweiten Haus „Tempe a Pailla“ ein zurückgezogenes Arbeitsleben zu führen, nahm ein Schaustück um Macht und Konkurrenz seinen Anfang.
Auf Einladung von Badovici malte Le Corbusier, der schon lange von der Villa besessen war – nackt! – acht großflächige Fresken auf die weißen Wände und lebte dabei auch seine verhinderte Karriere als Maler aus. Gray, die erst nach dem Krieg davon erfuhr, empfand Le Corbusiers Wandbilder als Vandalismus. Ihre Forderung, die Wände wieder weiß zu streichen und das Gebäude in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen, lehnte er mit maßloser Arroganz ab. Später baute er sich etwa 20 Meter von der Villa entfernt sein eigenes Haus, die Holzhütte „Le Cabanon“.
Was folgte, ist eine komplizierte Geschichte wechselnder Besitzverhältnisse, in der dem „Beitrag“ des ungleich berühmteren Le Corbusier stets Vorrang gegeben wurde. 2021 wurde das Haus nach jahrelanger Restaurierung wieder für die Öffentlichkeit geöffnet. E.1027 ist bis heute untrennbar mit Le Corbusier verwoben.
Doku-Fiktion in feministischer Perspektive
Beatrice Minger und Christoph Schaub geht es in ihrer Doku-Fiktion sehr eindeutig um eine feministische Perspektivierung. Die Architektur war männliches Gebiet. Dass eine Frau und Designerin von Teppichen, Beistelltischen und Leuchten darin ihren Platz behauptete, provozierte einen territorialen Konflikt. Der Film argumentiert entlang der historischen Geschlechterrollen dialektisch: Hier das „klassisch“ männliche Genie, wettbewerbsorientiert und öffentlichkeitsgierig, da die zurückgezogene Künstlerin, die im Grunde nur eines will: einen Raum zum Alleinsein und Arbeiten.
Im Zentrum des Films steht das Haus. Aber Minger & Schaub wollen auch noch die Künstlerin Eileen Gray erzählen, weshalb der Film durch eine mit allerhand Fotos und Archivaufnahmen angereicherte Biografie driftet. Texte von Eileen Gray, Jean Badovici und Le Corbusier liegen als Voiceover über den Bildern oder sind in Reenactments eingewoben. Seinen Verfremdungseffekten aus kunstvoll arrangierten bühnenhaften Settings und Projektionen scheint der Film aber nur halb zu trauen. Das Spiel der Schauspieler:innen geht eher in Richtung Repräsentationstheater. In den schönen und stets geschmackvollen Bildern ist die Atmosphäre durchweg elegisch.
Gleichbleibend entrückte Stimmung
Formal ist „E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer“ trotz seiner vermeintlich „hybriden“ Form ein eigentümlich hermetischer Film. Gelegentlich schieben sich Bilder der Gegenwart in die Erzählung, sie fallen aber nicht weiter auf. Minger & Schaub scheuen die Reibung. Jeder Widerspruch, jede auch ästhetische Disparatheit, die Grays Schaffen auch auszeichnete, neutralisiert sich in der gleichbleibend entrückten Stimmung. Dem Akt der Aneignung, den Le Corbusiers „Intervention“ darstellte, wird so ein wenig das Gewaltsame genommen. Erst wenn am Ende die fast hundertjährige Eileen Gray in einem Interview zu sehen und zu hören ist, scheint der Film richtig wach zu werden.